Dienstag, 29. Oktober 2013


Der Stau oder die begrenzte Strategie

Kaum auf der Autobahn und an der ersten Abfahrt vorbei, plötzlich rote Bremslichter und Warnblinkleuchten vor mir auf beiden Fahrspuren. Stau! Alles steht. Der Verkehrsfunk meldet, leider zu spät: 8 km Stau auf der A 14 wegen eines umgekippten LKW. Was kann ich machen? Links Leitplanken und rechts die Böschung, vor mir Riesenschlangen von Autos jeder Größe. Welche Strategie ist nun richtig? Eine Abfahrt kommt nach etwa 4 km. Also wieder auf die rechte Spur zwischen die Brummis. Später kann es mit den dicht auffahrenden LKW schwierig werden, dazwischen zu kommen. Falsch, die linke Spur bewegt sich einfach schneller. Wieder auf die Überholspur, schwierig, aber es geht. Jetzt stockt es aber hier und die LKW ziehen vorbei. Keine Strategie scheint zu funktionieren, ich bin immer auf der falschen Spur.
Da komme ich mir mal wieder vor, wie letztens im Supermarkt. Auch da stehe ich oft an der falschen Kasse. Ich hatte noch die Einkaufswagen an den einzelnen Kassen gezählt. Nur einer vor mir, Gott sei Dank, das ist O. K., da geht es  heute schnell. Da ruft die Kassiererin auch schon in ihr Mikrophon: „Was kosten die Brötchen von gestern?“. Ehe die Antwort von der Backwarenabteilung kommt, ist die Nachbarkasse längst wieder frei. Zurück geht nicht mehr, alle Waren schon auf dem Laufband. Und dann findet die Kundin vor mir zu allem Überdruss auch noch ihre EC-Karte nicht und muss das letzte Kleingeld zusammen suchen. Das kann dauern!
Zum Glück rollt die Blechlawine auf der Autobahn nun wieder einige hundert Meter weiter. Aber das kann dauern! Das einzige, was jetzt noch hilft, ist wohl Geduld und positiv zu denken. Verlorene Zeit oder geschenkte Zeit? Ich schaue mir in aller Ruhe die Wolkenformationen am Himmel an und lasse meine Gedanken schweifen. Zeit habe ich ja nun.  Und so kommen mir Bilder und Vergleiche in den Sinn.
Wie vieles im Leben der Menschen ähnelt doch der Situation des Staus. Dieser kommt meistens unerwartet. Er bringt unsere Pläne und Zeiten gehörig durcheinander und das bedeutet Stress und erhöht zudem die Unfallgefahr. Für ihr Leben machen sich die Menschen viele Gedanken und entwickeln tolle Strategien, wie sie rasch und problemlos vorwärts kommen. Wie oft aber gehen diese menschlichen Pläne eben nicht auf.  Was dann, wenn es heißt: Abfahrt verpasst, kein Platz auf der Überholspur, alles so zäh fließend, „stopp and go“, Stillstand? Nichts geht mehr oder nur sehr langsam. Das gesamte bisherige Leben kommt ins Stocken. Wie kann es dann weitergehen? Dann  gilt  es vor allem, seine Spur  finden  und  halten, nicht hektisch werden, zur Ruhe kommen, das hilft neue Möglichkeiten zu entdecken. Eine so genannte „Auszeit“ ist eine Zeit des Innehaltens. Sie kann den Blick erweitern und helfen, das Wesentliche zu erkennen und Dinge und Menschen neu zu sehen. So eine Zeit der „Entschleunigung“ ist eine Chance, wieder  bewusster zu leben. Dazu müssen wir heutigen Menschen buchstäblich den Fuß vom Gas nehmen und wenigsten einen oder zwei Gänge herunterschalten. Und das nicht erst, wenn wir die roten Bremsleuchten und die Warnblickleuchten am Stauende sehen. Wie oft hören wir, dass diese auf der Autobahn übersehen werden und es zu tragischen Auffahrunfällen kommt.
Noch häufiger werden aber im Zusammenleben der Menschen solche Warnsignale nicht wahr oder ernst genommen und das mit fatalen Folgen in unserer so schnelllebigen Zeit. Nur rechtzeitiges Reagieren hilft hier, noch Schlimmeres zu verhindern.

Donnerstag, 24. Oktober 2013

Still ruht der See – oder der laute Ruf nach Stille



„Seid doch endlich einmal still!“, erschallt der etwas ärgerliche Ruf der Klassenlehrerin vor dem Denkmal auf dem Marktplatz der Stadt. Die Kinder werden etwas leiser und nun können sie auch hören, was ihnen jetzt erklärt wird. 
Doch nicht nur den Kindern fällt es heute oft sehr schwer, still zu sein und zuzuhören. Ein hoher Lärmpegel beherrscht unseren ganzen Alltag. Vielfach merken wir es gar nicht mehr. Es scheint nur noch Lautstärke zu zählen. Nach dem Motto, wer am lautesten schreit, der gewinnt. Die leisen Töne gehen dabei einfach unter. Der aus dem Lärm und Getöse resultierende Stress wird wiederum lautstark beklagt, aber nur selten etwas daran geändert. Die Gewohnheit vieler, nur noch mit Geräuschkulisse zu arbeiten, zu lernen, zu leben, lässt sich nur schwer ablegen. Wenn die Berieselung einmal fehlt, werden manche Zeitgenossen buchstäblich nervös. 
Schon beim Starten des Autos schaltet sich das Radio ein, der erste Griff beim Betreten der Wohnung geht zur Fernbedienung, um den Fernseher einzuschalten. Bei jeder Tätigkeit, ob Hausaufgaben oder Küchenarbeit, läuft die Musik im Hintergrund. Ohne Beschallung geht scheinbar nichts mehr. Ist das noch gesund? Das ist es sicher nicht. Längst ist medizinisch erwiesen, dass Lärm krank macht. Aber nicht nur Hörschäden sind die Folge von zu lauter Musik, Maschinenlärm und anderem Krach, sondern besonders die Psyche des Menschen wird krank. Nervosität, innere Unruhe, Konzentrationsschwäche sind das Ergebnis. Und das Schlimmste ist, dass der Betroffene es erst gar nicht merkt, dass ein wenig Ruhe und Stille ihm gut tun würden. Doch diese hält der moderne Mensch in unserer Zivilisation am aller wenigsten aus. Bereits der Philosoph Blaise Pascal wusste dies schon, wenn er sagt: “Alles Unglück der Menschen entstammt einem, dass sie nämlich unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können.“ Die Stille deckt auf, was wirklich in uns ist. Diesem eigenen Inneren gegenüber zu treten und zu erfahren, wer ich  bin, wollen und können sich viele nicht stellen. 
Stürzen Sie sich deshalb lieber in den krankmachenden Lärm, weil sie es mit sich selbst nicht aushalten? „Seid doch endlich einmal still!“ Dieser Aufruf der Klassenlehrerin gilt wohl auch uns. Einfach mal abschalten, allen Lärm um uns und in uns, das ist allein wichtig. Dann spüren wir plötzlich eine  „himmlische Stille“ und können so dem „höllischen Lärm“ entfliehen. Die Stille ist ein wahres Geschenk des Himmels. Hier kann jeder die Seele baumeln lassen, wie an einem stillen Waldsee.

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Vom Sinn des Formationsfluges



Jetzt  kann  man sie wieder am Himmel sehen. Oft hört man zuerst ihr Schreien, so dass die Leute ihre Blicke nach oben richten. Und da ziehen sie vorüber, die Schwärme von Wildgänsen.  In wohlgeordneter Formation fliegen sie hoch über unseren Köpfe. Imposant bilden sie ein offenes Dreieck mit einem spitzen Winkel am blauen Himmel. Wie eine Pfeilspitze aus vielen Vögeln fliegen sie dahin. Wer sie aber einmal länger beobachtet, der bemerkt, dass ihre Formation immer die gleiche bleibt, aber die einzelnen Tiere sich bei der Führung abwechseln. Aus dem hinteren Teil des Verbandes kommt ein ausgeruhtes Tier an die Spitze und löst den Leitvogel ab, der sich allmählich nach hinten fallen lässt und sich in die Formation einreiht. Bei der Dreiecksformation haben die einzelnen Vögel alle vor ihnen fliegenden Tiere im Blick und können doch von ihrem Windschatten profitieren. Auf diese Weise legen sie lange Strecken zurück. Die Formation gibt ihnen Sicherheit und Halt.

Was bei den Wildgänsen so ganz natürlich ist, fehlt heute vielen Menschen. Der Zusammenhalt  und die Formen des Zusammenlebens sind schwächer geworden und vielfach aufgelöst. Jeder ist sich selbst überlassen oder hat sich selbst von alten Formen und Formationen verabschiedet. Diese als Einengung seiner Individualität abgestreift. Nun flattern sie, aufgeschreckt wie Tauben auf einem großen Platz, wild durcheinander. Besorgt, rasch wieder zum Futterplatz zu finden, um nicht zu kurz zu kommen. Wenn aber immer mehr nur noch an sich selbst denken, kann so manches Wichtige nicht mehr gelingen. Der Einzelne verfehlt dabei aber leicht die Orientierung. Auch unser Leben kann ohne Form und Ordnung nicht funktionieren.

In der Formation der Wildgänse werden die Schwachen gestützt und so sicher ans Ziel gebracht. Allein auf sich gestellt ist der einzelne Vogel nicht in der Lage, den Flug zu überstehen. Der Blick auf das Bild  mit der Formation der Wildgänse am blauen Himmel macht  es wohl allzu deutlich: Wer sich aus der Form des geordneten Zusammenlebens in unserer menschlichen Gesellschaft ausklingt, schwächt und gefährdet das Gemeinwohl. Denn eine Gemeinschaft ist nur so stark wie ihre schwächsten Glieder. Es muss sich jeder auf jeden verlassen können. Der Leitvogel muss alle anderen Vögel im Blick haben und jeder in der Formation kann sich an ihm ausrichten und kann sich auf ihn verlassen. Er aber erfährt die Unterstützung der anderen, wenn er mehr Ruhe braucht, um neue Kraft zu schöpfen. Jeder findet in der Formation den Platz, den er gerade zu einer bestimmten Zeit ausfüllen kann. Und weil die Wildgänse das instinktiv tun, erreichen sie gemeinsam ihr Ziel.

Warum wird das in unserer modernen Gesellschaft immer schwieriger, uns mit Vernunft und Verstand auf gemeinsame Ziele und die Wege dorthin zu verständigen?

Dienstag, 22. Oktober 2013


Der Apfel, den keiner wollte



Es ist gewiss kein „Bilderbuchapfel“. Nein, schön ist dieser Apfel gerade nicht. Er hätte wohl kaum eine Chance im Regal des Supermarktes. Da muss alles „super“ sein. Die Farbe, die Form, der Geruch eben alles, was die Käufer zum sicheren Kauf animiert. Und man kann ja noch ein wenig nachhelfen und die Früchte ins rechte Licht setzen, sie in Augenhöhe postieren. Dazu die passende Werbung und schon ist alles perfekt, einfach super – super einfach!
Der Apfel auf dem Baum gehört ganz und gar nicht zu der bevorzugten Sorte. Zwar leuchtet er so schön rot im Licht der Herbstsonne, aber er hat ja diese  dunklen Flecken und das ist heute ein unverzeihlicher Makel. Wer will so etwas  schon haben? Den will doch keiner!
Wir alle kennen den Zwang zum perfekten Äußeren sehr genau. Wer heute nicht dem Schönheitsideal entspricht, der und noch viel mehr die hat  es sehr schwer. Möglichst makellos und schön sollen und wollen sie alle sein. Was wird dafür nicht alles getan. Schon ein kleiner Pickel oder eine Hautrötung lassen fast ihre Welt zusammen brechen. Das kommt einer mittleren Katastrophe gleich.
Der Grund für mich, gerade aber diesen Apfel zu fotografieren, war sein natürliches Aussehen, seine leuchtend rote Farbe und auch die dunklen Flecken, die ihn so einmalig machen. Er ist eben nicht perfekt. Ganz anders  die Exemplare im Regal im Supermarkt, wo einer wie der andere aussieht. Das sieht auf den ersten Blick vielleicht verlockend und schön aus, aber auf den zweiten Blich erkennt man diese Scheinwelt in ihrer ganzen Künstlichkeit. Es wirkt irgendwie langweilig, ja tot. 
Muss das nun unbedingt auch bei den Menschen so sein? Ist Originalität nicht wichtiger als Uniformität, die auch noch einen hohen, oft zu hohen Preis hat? Nicht jeder muss doch aussehen wie „Supermann“ und nicht jede wie eine „Barbie Puppe“. Jemand hat einmal gesagt: „Jeder Mensch wird als Original geboren, aber die meisten sterben als Kopie.“ Wer will denn das?
"Der Apfel, den keiner wollte", ist ganz gewiss ein Original und keine Kopie, wie die anderen Äpfel im Regal. Darum ist er auch etwas ganz besonderes.Das haben wohl auch die ersten Märkte gemerkt und bieten nun frisches Obst an, das nicht genormt ist und wie im Bilderbuch aussieht, aber desto besser schmeckt. 

Wann spricht sich das endlich auch bei uns herum? Haben wir endlich wieder Mut, wir selbst zu sein, Originale und keine Kopien.

Freitag, 18. Oktober 2013


Blatt für Blatt oder der Mut zur Lücke


Fast über Nacht hat der Wind die letzten Blätter von der Linde vor meinem Fenster geweht. Nur noch weinige davon zeichnen sich schemenhaft gegen den blassgrauen Himmel ab. Noch vor kurzem bildeten sie einen grünen, dann goldgelben Vorhang und verbargen die Häuserfront auf der anderen Straßenseite. Das Auge muss sich erst wieder an diese Kargheit der kahlen Äste an den Bäumen gewöhnen und es tut sich unendlich schwer, von der Fülle und Farbenpracht der Natur Abschied zu nehmen.

Hierbei wird mir deutlich, dass wir Menschen meistens erst merken, was das Leben uns alles schenkt, nämlich dann, wenn  es nicht mehr da ist. Und das ist unendlich viel mehr, als die Blätter der Bäume, denen wir nun wehmütig nachtrauern. Verluste haben wir wohl schon alle einmal hinnehmen müssen. Angefangen vom Schlüsselbund bis hin zur Arbeitsstelle. Menschen verlieren heute so manches. Die Fundbüros sind voll von diesen Dingen. Einiges ist ersetzbar und wird leichter verschmerzt. Schmerzlich ist es aber in jedem Fall, wenn etwas verloren geht. Und manches ist eben nicht ersetzbar. Wer einen Menschen verliert, sei es durch Trennung oder gar Tod, wird diesen Verlust stets in sich tragen. Solche Verluste graben sich oft tief in den Menschen ein. Es bleibt in seinem Leben ein Platz leer. Eine Lücke entsteht, die so schnell nicht geschlossen werden kann oder muss. „Mut zur Lücke“, ist da so ein Wort, das zumindest bedenkenswert ist. Die Lücke ist eine Leerstelle, die möglichst schnell wieder geschlossen werden soll. In einer Häuserzeile in der Stadt wirkt eine Baulücke störend und allzu oft ist sie bald vermüllt. Und wer möchte schon gerne mit einer Zahnlücke herumlaufen? Defizite in unserem Leben sollen möglichst schnell beseitigt oder wenigstens kaschiert werden. Das Wort: „Mut zur Lücke“ ist da nicht einfach ein Trostpflaster, alles so zu belassen, wie es nun einmal ist,  sondern es ist eine Herausforderung, sich mutig der neuen Situation zu stellen. Da  heißt es, den entstandenen Verlust erst einmal als solchen zu sehen und ihn anzuerkennen. Das ist nun einmal so! Muss es aber so bleiben? Gibt es nicht ganz neue Perspektiven?

Wenn ich zum Beispiel jetzt aus meinem Fenster schaue, dann sehe ich zuerst einmal den kahlen Lindenbaum, aber wenn ich den Blick hebe, kann ich den Himmel über den Dächern der Häuser auf der anderen Seite sehen. Dieser Ausblick war mir in den letzten Monaten nicht möglich, das ist neu. Auch ist es spürbar heller an meinem Schreibtisch geworden. Mehr Licht kommt in mein Zimmer, in mein Leben. Am Abend erkenne ich, wie sich die Fenster der gegenüber liegenden Wohnungen erhellen und Licht und Wärme ausstrahlen. Dort leben Menschen und sie können nun freier auf unser Wohnhaus schauen. Dinge und Menschen können schon mal den Blick füreinander verstellen, unseren Blick einengen! Durch entstandene Lücken hindurch kann ich Dinge entdecken, die mir sonst verborgen geblieben wären. So können auch oft schmerzliche Verluste mein Blickfeld erweitern.  Das, was sich wie eine hässliche Lücke aufgetan hat, schenkt mir nun einen neuen Blick und erweitert  den Horizont. Dazu braucht es aber immer wieder Mut und die Ermutigung durch andere Menschen.

In diesem Blog: „Worte und Wege“ möchte ich Worte suchen, die bewegen! Wer mir dabei folgen möchte ist herzlich dazu eingeladen. Dietrich Letzner, Halle-Saale