Mittwoch, 19. Oktober 2016


Das Klassentreffen


„Wie doch die Zeit vergangen ist“, das ist wohl der häufigste Satz, der bei einem Klassentreffen zu hören ist. Beim Blick auf das Foto von der Einschulung hat mancher schon Schwierigkeiten, sich selbst noch zu erkennen. Um wie viel mehr, wenn man einstige Mitschüler nach der Schulentlassung zum ersten Mal nach 50 Jahren wieder sieht.
Da steht dann eine Gruppe völlig fremder Menschen auf dem Hof der ehemaligen Schule. Bin ich hier wirklich richtig? Natürlich, das Klassentreffen soll doch heute hier stattfinden. Verunsichert gehe ich auf die Gruppe älterer Leute zu. Nur nichts anmerken lassen, ist jetzt die Devise. Und es klappt. Andere sind scheinbar nicht so verunsichert wie ich und kommen gleich auf mich zu. Habe ich mich etwa nicht so sehr veränder? Jedenfalls fliegt mir gleich eine ehemalige Schülerin um den Hals und begrüßt mich herzlich. „Ach wie schön, sich nach so langer Zeit mal wiederzusehen“, stammele ich noch etwas benommen. Wer das eigentlich war, weiß ich immer noch nicht.

Alles klärt sich später sicher noch auf. Dazu sind ja solche Klassentreffen da. Wen ich aber zuerst erkenne, ist ein alter Lehrer. Na gut, alt war er für uns Schüler damals schon. Jetzt ist er 80 Jahre und wir sind auch alle weit in den Sechzigern. Wie doch die Zeit vergeht! Und so manches ist auch an uns vergangen. Bei den männlichen Mitschülern sind die Haare erheblich weniger geworden und die Stirn geht nun fast bis zum Nacken. Die Gesichter sind markanter geworden. Gezeichnet von Lachfalten oder von den Sorgen der letzten Jahre. Alles gestandene Frauen und Männer.

An keinem ist das Leben spurlos vorüber gegangen. Davon ist dann auch in den nächsten Stunden des Klassentreffens viel die Rede. Nach einer gewissen Zeit kann sogar ich die einzelnen Mitschüler wieder so einigermaßen den alten Namen zuordnen. Und ich staune immer wieder neu, was sie von mir und der Schulzeit noch  alles zu berichten wissen. Vieles davon halte ich einfach für eine ganz normale Legendenbildung nach so langer Zeit. Bei diesem Austausch von alten Schulgeschichten verging auch an diesem Tag die Zeit wieder wie im Flug.

Klassentreffen geben einem die Gelegenheit, Einblicke in das Leben der ehemaligen Mitschüler zu bekommen, mit denen man in seiner Kindheit über Jahre die „Schulbank gedrückt“ hat. Hier verknüpft sich die Frage nach der vergangenen Zeit, mit der Frage, was hat jeder damit gemacht oder was hat sie mit ihm gemacht? Die äußerlichen Veränderungen der einzelnen im Vergleich zu den alten Klassenbildern sind doch unverkennbar. Aber es ist noch so unendlich viel mehr geschehen. Aus den fröhlichen Kindern sind reife Erwachsene geworden, die schon wieder Kinder und Enkelkinder haben. Manche Ehe ist gescheitert. Der nächste musste den Verlust eines Partners verkraften oder gar den tragischen Tod eines Kindes. Andere sind selbst durch Krankheiten schwer gezeichnet und konnten nicht dabei sein. Und eine ganze Reihe der ehemaligen Mitschüler ist schon im Laufe der vergangenen Jahre verstorben. Auch um sie ging es in den Gesprächen an diesem Tag immer wieder.

So ein Klassentreffen ist ein regelrechtes Fest der Erinnerung. Aber auch ein Anlass zur Selbstreflexion. Keiner von den ABC-Schützen, die auf dem Bild von der Einschulung so erwartungsvoll in die Kamera schauten, konnte wissen, wo sie oder er nach 60 Jahren stehen werden. Alle haben sich auf den Weg in die Zukunft begeben. Jeder ist dabei seinen eigenen Weg gegangen, mit allen Höhen und Tiefen. Keiner hatte dabei einen „goldenen Weg“ und stets einen heiteren Himmel über sich. Darum ist alles Schielen auf die vermeintlichen Erfolge und Stärken der anderen einfach nur müssig. Die Wirklichkeit ist immer eine andere. Und alles hat seine Zeit und auch seinen Preis.

Klassentreffen lassen uns das Leben der anderen und das eigene Leben wieder realistischer sehen. Die Erinnerung wird mit der Realität konfrontiert. Das macht etwas traurig, aber zugleich auch wieder froh. Mit diesen und anderen Gedanken im Kopf und einem guten Gefühl im Bauch fahre ich ganz zufrieden zurück nach Hause.


Donnerstag, 6. Oktober 2016


Der Rote Turm, der  gar  nicht  rot ist

In Halle an der Saale steht auf dem Marktplatz ein markanter Turm. Es ist der „Rote Turm“. Viele Male bin ich schon daran vorbei gegangen, habe auf die Turmuhr geschaut, die sich dort oben befindet, und habe mir  nichts  weiter gedacht. Doch als ich im letzten Sommer einigen Besuchern die Stadt zeigen wollte, stolperte ich förmlich über diesen Turm. Genauer gesagt über dessen Namen: „Roter Turm“. Da fiel mir eigentlich erst auf, dass  der Turm doch gar nicht rot ist.

Meine Recherchen ergaben daraufhin ganz unterschiedliche Deutungen. Eine geht davon aus, dass das ursprüngliche Kupferdach rot erstrahlte, der wahrscheinlichere Grund ist der, dass dort am Turm das sogenannte Blutgericht abgehalten wurde. Ein dritter Grund ist die Annahme, dass sein Name einen Bezug zum Namen des am Bau beteiligten Architekten Johannes Rode hat und deshalb der „Rode-Turm“, später  der rote Turm genannt wurde. Wie es auch sei, heute gehört der rote Turm, der gar nicht rot ist, zur Silhouette der Stadt Halle und nur wenige wundern sich über den Namen.

Beim Nachdenken darüber kamen mir noch weitere Bezeichnungen und Namen in den Sinn, bei denen der Inhalt nicht oder nicht mehr mit der Sache übereinstimmt. Und trotzdem weiß jeder, was damit gemeint ist.

Handwerker messen noch immer mit ihrem „Zollstock“ die Länge einer Dachlatte oder eines Rohrs ab. Ursprünglich war das ein abgeschnittenes Stück Holz, mit dem Maß genommen wurde. Auch die spätere Maßeinteilung Zoll (ein Zoll gleich 2,56 cm) ist längst dem metrischen Maß gewichen und die heutige, korrekte Bezeichnung lautet „Gliedermaßstab“, die aber keiner benutzt. Wenn nun der Meister nach dem Zollstock verlangt, weiß jeder Lehrling, Verzeihung, jeder „Auszubildende“ gleich Bescheid und er bringt den „Zollstock“, der gar nicht mehr nach Zoll eingeteilt ist, zum Chef.

Selbst beim Telefonieren mit einem Smartphone kann man immer noch hören: „Der hat doch einfach aufgelegt“. Wie soll das eigentlich gehen? Bestenfalls drückt man die Taste zum Beenden oder wischt einfach über das Display. Trotzdem versteht jeder den gemeinten Sachverhalt. Das Gespräch ist beendet. Wie auch immer das gemeint war.

Natürlich hörte beim Geld schon immer die Freundschaft auf. Da wird genau auf Heller und Pfennig abgerechnet. Kein Mensch fragt sich dabei, wieso Heller und Pfennig? Haben wir nicht bereits seit dem Jahr 2000 Euro und Cent? Doch egal, die Bilanz muss einfach stimmen.

Und wenn an einer Stelle in der Gesellschaft die Mittel knapp sind, kommt prompt der Ruf, meistens aus der Opposition: „Da muss der Staat doch einfach mal „Geld in die Hand nehmen“, um diesen Zustand zu beenden. Wer nimmt  denn in solchen Größenordnungen noch Geld in die Hand? Dafür ist längst der elektronische Zahlungsverkehr üblich, bei dem die Geldströme weltweit bewegt werden. Selbst  Brot und Brötchen beim Bäcker werden immer häufiger mit EC-Karten bezahlt. Wer heute noch größere Summen Bargeld in die Hand nimmt, der macht sich leicht verdächtig, mit „Schwarzgeld“ zu hantieren. Deshalb wird ja zunehmend die Forderung nach der Abschaffung des Bargeldes sehr kontrovers diskutiert. Trotzdem weiß jeder, was damit gemeint ist.

Sicher sind Ihnen allen auch schon einmal solche oder ähnliche Bezeichnungen aufgefallen. Meistens denken wir uns gar nichts dabei. Es ist wie es ist. Das gehört zu unserer Sprache und zu unserem Leben. Manchmal ändern sich die Inhalte im Laufe der Zeit und trotzdem behalten wir die alten Bezeichnungen bei. Manchmal werden einfach neue Namen für alte Dinge erfunden und geprägt. Was vorgestern noch "Spitze" war, war gestern eher "cool" und ist heute "Mega geil" und morgen, wer weiß das schon?