Freitag, 1. April 2022

Die Sanduhr

Wie der Sand in einer Sanduhr durch eine winzig kleine Öffnung rinnt, so verrinnt auch die Lebenszeit des Menschen. Im Augenblick des Todes läuft das letzte Körnchen des Lebens durch diese enge Öffnung. Deshalb ist seit alters her die Sanduhr ein Sinnbild für die Vergänglichkeit allen Seins. In der Kunst und der Literatur taucht sie daher als Symbol immer wieder auf. So heißt es in einem Gedicht: „Die Sanduhr des Lebens kann keiner drehen. Für jeden von uns bleibt sie irgendwann stehen.“ Eigentlich eine simple Wahrheit, dass jedes Leben zeitlich begrenzt ist. Gewiss ist aber nur, dass es irgendwann einmal geschieht. Das Wann ist unbekannt. Doch es gibt dabei erhebliche Unterscheide, denn der eine wird über 90 Jahre alt, ein anderer muss bereits mit 32 Jahren gehen.

Bei der Sanduhr des Lebens, um im Bild zu bleiben, ist im Gegensatz zu einer normalen Sanduhr das obere Glas für den Betrachter nicht sichtbar. So ist es auch mit der Anzahl der Lebensjahre eine Menschen. Sie kennt keiner.  Sichtbar und erkennbar sind  nur die vergangen Jahre und Jahrzehnte, die wie der Sand durch die Uhr gelaufen sind. Das Zukünftige ist und bleibt dem Menschen verborgen. Mit dem zunehmenden Lebensalter kommt häufig das Gefühl auf, dass der Sand in der Uhr scheinbar immer schneller verrinnt. Zogen sich doch die Tage und Wochen in der Kindheit oft nur träge dahin und wollten manchmal kaum vergehen. Die Zeit-Körnchen tröpfelten quasi nur mühsam durch die enge Öffnung. Schon bald aber merkt man, dass die Zeit  knapp wurde und der Zeitdruck zunahm. Ja, die Zeit bekam förmlich Flügel und rauschte nur so dahin. Dann wächst auch die Erkenntnis, dass die Zahl der bereits vergangenen Jahre zunimmt, die Anzahl der zu erwartenden Jahre sich immer mehr verringert. Solche Gedanken an die Vergänglichkeit und die Endlichkeit, sowie die Ungewissheit, was das Morgen bringen wird, dass verunsichern und ängstigen  sehr häufig die Menschen. Gerade diese Wahrheit, dass alles Leben sterblich und  zeitlich begrenzt ist, ist aber die einzige Wahrheit, die ein Mensch wirklich haben kann. Alles andere im Leben ist fragil und äußerst ungewiss.   

Klingt es da nicht geradezu wie unmündiger Trotz, wenn der griechische Philosoph Epikur sagt: "Mit dem Tod habe ich nichts zu schaffen. Bin ich, ist er nicht. Ist er, bin ich nicht."  Oder etwas zeitgemäßer ausgedrückt: „Jetzt leben wir, lasst uns das Leben genießen, alles andere soll uns nicht kümmern, daran müssen wir heute nicht denken, das hat später noch Zeit." Zielen nicht auch die Bemühungen der Medizin und der Forschung in diese Richtung, ständig auf der Suche nach Möglichkeiten, das Stundenglas, wie die Sanduhr auch genannt wird, wieder zu drehen und neu in Gang zu setzen oder wenigsten möglichst lange am Laufen zu halten? Und das um jeden Preis.

Wenn dann der Tod einen geliebten Menschen trifft, wenn dessen Leben im Sterben zu Ende geht, wenn die letzten Körnchen durch die Uhr gelaufen sind, dann muss sich der Mensch unweigerlich der Tatsache des Todes stellen. Diese Grenzerfahrung ist für viele deshalb auch eine enorm große Herausforderung, die so manchen überfordert. Sie berührt nämlich einen Bereich, der ansonsten häufig verdrängt wird. Streben und  Tod kommen, außer auf dem Bildschirm, im Alltag der meisten Menschen nicht mehr vor, sie sind sozusagen outgesourct.  Das geschieht meistens abseits vom alltäglichem Leben.  

Der bildhafte Vergleich des menschlichen Lebens mit einer Sanduhr, macht hier vielleicht deutlich, dass jeder Mensch nur eine gewisse Menge an Sand, sprich Lebenszeit, zu Verfügung hat. Keiner aber weiß, wie viele Lebensjahre ihm geschenkt sind. Das ist sicher auch gut so. Die Gewissheit des Ungewissen bleibt so jedoch eine permanente Herausforderung, die manchen mit Unruhe oder gar Angst erfüllt.

Der Blick auf das eigene Leben, zeigt dem Menschen stets nur das, was vergangen ist, was also hinter ihm liegt an Gutem wie an Schwerem. Das kann froh und dankbar machen oder auch traurig und bitter. Trauer über die glücklichen Zeiten in seinem Leben, dass sie so schnell vorüber waren. Doch Dankbarkeit erfüllt ihn, dass sie gewesen. Außerdem bleibt die Hoffnung, oder es wird selbstverständliche Annahme, dass die Zeitmenge im eigenem Stundenglas noch lange Zeit ausreicht für all das, was ein Mensch noch erleben und erreichen möchte. 

Derjenige aber, der sich frühzeitig seiner Endlichkeit bewusst ist, der seine eigene Begrenztheit kennt und akzeptiert, dem wird sehr deutlich, dass jede Minute, jede Stunde und jeder Tag unwiederholbar und damit unendlich wichtig und wertvoll sind. Deshalb ist für jeden Menschen, ob er jung oder alt ist, gerade der Augenblick die Zeit, die er hat, etwas zu tun oder es nicht zu tun. All das wird gleichsam sichtbar und messbar im unteren Glas der Sanduhr seines Lebens. Das Gute und Geleistete genauso wie das Unterlassene und Schlechte. Deshalb ist das Leben immer wieder, zu jeder Zeit und in jedem Augenblick eine Herausforderung für jeden Menschen, das zu tun und zu sein, worauf es ankommt. Ob also ein Leben gelingt, hängt nicht von seiner Länge ab, sondern davon, aus welcher Tiefe ein Mensch gelebt hat.