Sonntag, 20. März 2016


Wer ist  eigentlich behindert?

 


Es war an einem Sonntagnachmittag, das weiß ich noch ganz genau, als ich bemerkte, dass ich behindert bin! Ich war damals ein junger Mann von 23 Jahren. Die Erfahrung war recht schmerzlich. Doch bitte falsches kein Mitleid. Das ist schon der erste Fehler in der Begegnung mit behinderten Menschen. Ja, es sind zu allererst Menschen, zwar mit unterschiedlichen körperlichen oder geistigen Behinderungen, aber es sind Menschen.
Meine so plötzlich aufgetretene Behinderung war jedoch von ganz  anderer Art, denn körperlich und geistig fehlte mir nichts. Das Ganze fing damit an, dass wir als Studenten an manchen Sonntagen in die „Pfeifferschen Stiftungen“ in Magdeburg gingen. Wir hatten uns freiwillig zu einem sozialen Dienst angeboten. So betraten wir das Gebäude, in dem behinderten Kinder untergebracht waren. Schon der Geruch verschlug mir fast den Atem und mein Magen fing an, sich leicht zu drehen. Doch was sollte es, wir wollten ja helfen, Nöte lindern und den Kindern etwas Freude schenken. Also hieß es durchatmen und durch. Man gewöhnt sich schließlich fast an alles! Oder?
Die körperlich und geistig behinderten Kinder freuten sich, als sie uns sahen und taten dies mit oft unartikulierten Lauten kund. Mit dem Personal, das gerade am Sonntag immer knapp war, wurde alles abgestimmt. Die Schwestern  waren froh, wenn sich jemand zusätzlich um die Kinder kümmerte. Bei schönem Wetter gingen wir mit ihnen im  Park spazieren oder schoben die Rollstühle hinaus. Eltern und Verwandte ließen sich nicht leider nicht oft sehen.
Alles war bereit, nun sollte es losgehen. Doch heute musste ich zuerst noch dem etwa zehnjährigen Jungen beim Anziehen seiner Jacke helfen. Und da geschah es. Ich merkte, dass ich der Behinderte war. Wie dumm muss ich mich wohl angestellt haben, ihm seine Armen in die Ärmel zu stecken. Besser muss ich wohl sagen, seine kleinen Hände, die sich direkt an seinen Schultern befanden, in die viel zu langen Ärmel der Jacke zu stecken. Der Junge war zwar schwer körperlich behindert, aber geistig völlig normal und ein helles Köpfchen. Mir läuft es heute noch kalt den Rücken herunter, wenn ich daran denke, was er mir sagte: „Stell dich nicht so dumm an, schau so musst du das machen. Das ist doch nicht so schwer.“
Doch ich war in diesem Augenblick der „Behinderte“. Ich kam mit dieser Situation einfach nicht klar. Später habe ich noch viele Menschen erlebt, die mit ihren Behinderungen leben und klar kommen mussten. Auch wenn es eine harte Schule war, so habe ich im Laufe der Jahre eine große Hochachtung vor allen Menschen mit einem Handicap gewonnen und ganz besonders vor denen, die sie pflegen und denen es gelingt, sie als Partner mit ihren Schwachpunkten aber auch mit ihren ganz speziellen Stärken zu sehen.
Ja, wir selbst sind häufig die „Behinderten“, die wir uns für stark, gesund  und so normal halten. Wir betrachten alles, was von unserer Norm abweicht, leicht für „unnormal“. Das führt dazu, dass wir nicht natürlich mit Menschen umgehen, die etwas anders sind. In dieser Situation neigen wir leicht zu einem übertrieben, weinerlichen Mitleid oder wir wenden uns ab, um sie nicht  sehen zu müssen. Nach dem Motto, was ich nicht sehe, das gibt es nicht. Dieses für uns „fremdartige“ Aussehen und Veralten hindert uns, normal zu reagieren. Das Anderssein dieser Menschen verunsichert, ja es kann sogar ängstigen und Aggressionen auslösen. Es behindert und verhindert  einen selbstverständlichen, fairen  und guten Umgang aller Menschen miteinander.
Meine so spontan aufgetretene „Behinderung“ an jenem Sonntag, war eine tiefe Erfahrung und hat mir letztlich gezeigt und deutlich gemacht, dass meine Vorstellung von Normalität nicht die einzige ist und schon gar nicht die richtige sein muss.

Mittwoch, 9. März 2016


Findlinge – Zeugen vergangener Jahrtausende


Sicher sind sie Ihnen auch schon einmal aufgefallen, die Findlinge. Sie liegen oft am Rande des Weges oder eines Ackerfeldes. Findlinge werden diese großen runden Steine genannt, die heute noch manchem Landwirt zu schaffen machen. Als würden sie aus dem Boden wachsen, tauchen sie an der Oberfläche auf. Sie sind  tonnenschwer und jeder wundert sich, wo sie eigentlich herstammen, denn in unmittelbarer Nähe lässt nichts auf ihre Herkunft schließen. Der Name „Findlinge“ macht gleichfalls auf die Unsicherheit über deren Ursprung deutlich. Diese erratischen Blöcke werden an Orten gefunden, wo sie gar nicht hingehören. So tragen sie zu recht noch heute den Namen, Findlinge!
Natürlich wissen wir inzwischen sehr genau, dass diese Kolosse uralte Zeugen der Eiszeit und ihrer Gletscher sind. Das meterhohe Eis der Gletscher hat diese Steine einst vor tausenden von Jahren aus den Bergen in das Vorland geschleppt oder sie von Skandinavien bis nach Norddeutschland transportiert. Über lange Zeiten und Distanzen wurden die Felsbrocken durch den enormen Druck unter dem Eis über das Geröll geschleift und dabei rundeten sich ihre Ecken und Kanten allmählich ab und sie erhielten ihre heutige runde Form.  Die enormen Eismassen haben so durch ihr Vordringen und das Zurückweichen in dieser unendlich langen Zeit ihre Spuren durch das Land gezogen, die wir in Form von Endmoränen und Flusstälern noch heute deutlich erkennen können.
Wir leben in  einer sehr schnelllebigen Zeit und können uns diese riesigen Zeiträume gar nicht richtig vorstellen. Bei uns muss alles immer schnell gehen und jeder Wunsch möglichst sofort erfüllt werden. Verglichen mit der schier unendlichen  Zeitpanne der Vorgeschichte unserer Erde und den Jahrtausenden der Geschichte der Menschen, ist natürlich das Leben des einzelnen Menschen ein kaum sichtbares Pünktchen auf dem Zeitstrahl der Entwicklung. Alles was außerhalb unserer eigenen Lebensspanne liegt, bleibt uns, bei allem theoretischen Wissen darum, doch irgendwie fremd und manches wirkt sogar unheimlich.

Findlinge üben auf mich eine ganz besondere Faszination aus. Sie erscheinen mir wie „fremde Wesen“ aus einer längst vergangenen Zeit. Aber sie erinnern mich auch an Menschen, die in sich ruhen und Gelassenheit ausstrahlen. Die in ihrem Leben so manches erlebt und erlitten haben. Die gleichsam all ihre Ecken und Kanten verloren haben auf ihrem Weg durch das Leben. Doch der Druck und die Lasten haben sie nicht zerstört, sondern gerundet und bewegt. Ihre Gedanken und Worte sind nicht oberflächlich und schnell vergänglich, sondern diese kommen aus einer großen Tiefe ihres Seins. Sie sind eher schweigsam und verhalten in unserer sonst so geschwätzigen Zeit, wenn sie aber sprechen, dann hat das Gesagte wirklich Gewicht. So manchem kommen sie eher fremd und etwas verloren in unserer heutigen Zeit vor, denn sie tauchen schon mal an Orten und zu Zeiten auf, wo sie keiner so recht erwartet. Sie sind dann einfach da und präsent und wirken deshalb für andere Menschen sogar eher störend.
Sie haben noch eine Ahnung davon, dass auch heute nicht alles schnell, schnell gehen muss, von jetzt auf gleich, sondern dass Vieles eben Zeit braucht. Sie denken in anderen Dimensionen und Zusammenhängen, weil eins oft nicht ohne ein anderes denkbar ist und schon gar nicht machbar. Solche Menschen sind für mich wie „Findlinge“ am Wege. Sie laden ein zum Ausruhen und zum Verweilen. Leider begegnen uns solche Menschen nicht oft an unseren Wegen, genau wie die Findlinge, werden sie immer seltener. Doch es lohnt sich, solche Menschen zu suchen und zu finden.
 
Wenn wir ihnen begegnen, sind sie nämlich für uns wie ein Geschenkt aus der Tiefe der Zeiten und des Lebens, wie die Findlinge auch, Zeugen einer anderen Wirklichkeit.

 

Mittwoch, 2. März 2016



Straßenhunde in Paraguay

 
Neulich schaute ich mir alte Dias von unseren Reisen aus den letzten Jahren an. Dabei wurden viele der Bilder ganz lebendig und so manche Begebenheit fiel mir dazu wieder ein.  Auch diese  von unserer Reise nach Paraguay. Das war so:
 
Sie, eine ältere Dame, hatte sich von ihrem Mann ganz einfach am falschen Hotel absetzen lassen. Als sie ihren Irrtum bemerkte, war ihr Mann mit dem Auto schon wieder weg. Nun suchte sie händeringend nach einer anderen Mitfahrgelegenheit, um doch noch rechtzeitig zum Treffen der Frauengruppe deutscher Einwanderer in Paraguay zu kommen. Am schönen Lago Ypacarai, dem größten See Paraguays, liegt die Kleinstadt San Bernadino, die 1881 von deutschen Einwanderern gegründet wurde. Unseren Rundgang am See und durch die Stadt wollten wir gerade mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Käsekuchen in der „Deutschen Bäckerei“ beschließen.
 
Da kam auch schon die Frau ganz aufgeregt auf uns zu. „Sie sprechen deutsch“, sprach sie uns. „Ja, wir sind aus Deutschland.“ „Ick bin die Rosi und komme aus Berlin“, sprudelte es aus ihr heraus. In kürzester Zeit erfuhren wir, dass sie schon einige Male in Paraguay war und  jetzt mit ihrem Mann hier am See in diesem guten Klima seit Wochen alles für ihre Einwanderung nach Paraguay vorbereiteten. Deshalb wollte sie ja auch zu dieser Frauengruppe, denn von ihr erhoffte sie sich viele gute Tipps. Man tauschte sich dort nämlich über alles aus, vom Brotbacken über den Umgang mit den Behörden im Land bis zur Information, wo der beste Fisch hier am See geräuchert wird. Aber das würde sie nun alles verpassen, wenn sie nicht schnellstens in das andere Hotel käme. Kurz und gut, sie würde uns auch einen Kaffee spendieren, wenn wir sie dorthin fahren könnten. Leider hatte sie  aber auch nur eine vage Vorstellung, wo das Hotel  so ungefähr liegt.
 
 Nachdem wir uns kurz in der Bäckerei umgesehen hatten und diese dann doch nicht den erwarteten Eindruck auf uns machte und Käsekuchen gab es auch nicht mehr, fuhren wir mit Rosi zurück in die Stadt. Während der Fahrt erzählte sie uns, dass Sie und  ihr Mann einen ruhigen Lebensabend in Paraguay verbringen wollen. Mit dem Ersparten und der Rente aus Deutschland kämen sie hier viel leichter und besser klar als in Deutschland. Und es lebt sich ja auch wesentlich ruhiger hier. Aber das viele Elend und die Armut machten sie schon sehr betroffen. Davor konnte sie die Augen nicht einfach verschließen. Und sie hatte beschlossen, hier zu helfen. Wir erfuhren also von ihr, dass sie sich gern sozial engagieren wolle. Sie hätte ja schon immer eine soziale Ader gehabt, meinte sie noch.
 
 Wir waren echt beeindruckt und gespannt, was sie denn für Projekte plante. Ja, sie wolle sich um die Straßenhunde kümmern, die täten ihr so leid. Wir sahen uns nur kurz an und schluckten leicht. Wir hatten nämlich bei unserer Reise in diesem Land schon ganz andere Probleme und sehr viel Armut gesehen, worunter die Menschen litten. Wenn man ihnen helfen würde, wäre sicher auch den Hunden geholfen, dachten wir noch. Doch da waren wir auch schon am Hotel. Rosi eilte schnellstens zu ihrer der Frauengruppe und schon war sie verschwunden. Wir tranken unseren Kaffee und bezahlten ihn selbst. Wenn aber wir in den Tagen nach dieser Begegnung mit Rosi, streunende Hunde auf den Straßen und Plätzen sahen, dann mussten wir unwillkürlich an Rosi und  ihr „soziales Engagement“ denken. Auch wenn wir selbst etwas andere Vorstellungen von einem „sozialen Engagement“ hatten, so war doch Rosis Vorhaben  immerhin ein kleiner Anfang in diesem Land. Straßenhunde gibt es in Paraguay genug, buchstäblich wie Sand am Meer.
 
Sagt man nicht, dass der Hund der beste „Freund des Menschen“ sei?  Warum sollte  es nicht auch umgekehrt der Fall sein? Helfen ist in jedem Fall besser, als gar nichts zu tun.