Sonntag, 4. Dezember 2016


„Dann bin ich ganz glücklich…“

Freitagabend. Kurz noch in den Back-Shop. Schnell ein leckeres Cranberry-Walnuss-Brot erstanden und ein paar Brötchen. Beim Einpacken höre ich hinter mir die Bestellung einer älteren Dame: „Kann ich bitte auch ein halbes Cranberry-Walnuss-Brot bekommen?“ „Selbstverständlich, gern“, antwortet der Verkäufer freundlich. „Wenn Sie mir dann noch drei Scheiben davon abschneiden könnten, dann bin ich ganz glücklich“ meinte die Kundin noch.  Als ich mich nach ihr umschaute, sah ich in ihr glücklich lächelndes Gesicht. Das tat richtig gut.

Wie wenig doch zum glücklich sein genügt? Daran musste ich dann beim Abendessen wieder denken. Ein knackiger Salat und dazu eine Scheibe von dem köstlichen Cranberry-Walnuss-Brot mit Butter. Ein wahrer Genuss. „Es muss nicht immer Kaviar sein“, wie schon Mario Simmel vor vielen Jahren einen seiner Romane betitelte. Damit hatte er doch wirklich recht. 

Wie kommt es bloß, dass gerade in diesen Tagen und Wochen der Vorweihnachtszeit die Menschen meinen, sie müssten immer größere und teurere Geschenke zum Weihnachtsfest kaufen? Dabei werden doch nur die Geldbörsen und Bankkonten über alle Maße strapaziert. „Ach, es ist doch nur einmal Weihnachten im Jahr“, heißt es dann ganz schnell. Damit beruhigt sich jeder wieder selbst. Je höher der Einsatz, je größer der Gewinn.

In diesen Wochen kramt so mancher in seiner Erinnerung nach oder er hat es sich sogar notiert, was er im letzten Jahr den anderen geschenkt hat und besonders, was er im Gegenzug bekommen hat. Es darf ja auf keinen Fall jemand vergessen werden oder nur ein unscheinbares Präsent bekommen. Ein gutes und spannendes Buch, das einem selbst gefallen hat und das dem anderen sicher auch Freude machen würde, reicht da schon längst nicht mehr aus. Neueste Elektronik, teure Designerklamotten, exquisite Delikatessen, alles vom Feinsten, die Messlatte wird von Jahr zu Jahr höher gelegt. Man will sich ja nicht lumpen lassen und vor allem keinem etwas schuldig bleiben. Das große Geschenke-Spiel: "Das schenk ich Dir - was schenkst Du mir?" läuft wieder auf Hochtouren. "Alle Jahre wieder...."

Ob sich dann am Weihnachtsfest tatsächlich jeder über all die sündhaft teuren Geschenke auf dem Gabentisch freuen wird, das bleibt letztendlich abzuwarten. Können denn diese Geschenke, hinter denen solche und ähnliche Überlegungen stehen, die anderen wirklich glücklicher machen? Potenziert sich etwa das Glück automatisch mit dem Preis oder der Menge und Größe der Geschenke? Diesem Trugschluss erliegen immer noch viele Menschen und meinen ernsthaft, wenn sie dieses oder jenes endlich hätten oder bekämen, dann wären sie glücklich.

Genau das stimmt aber eben nicht, denn Glück hat nichts mit Besitz zu tun. Jemand hat einmal gesagt: „Reich ist der Mensch, der arm an Wünschen ist.“ Wer also wunschlos ist, ist glücklich. Wer es schafft, sich dem ständigen Streben nach immer mehr und größeren materiellen Dingen bewusst zu entziehen, der wird nicht unglücklich, sondern der wird die kleinen Dinge im Leben als wahre Geschenke schätzen und sich freier und glücklicher fühlen. Sein Sinnen und Trachten ist nicht mehr so sehr vom ständigen "Habenwollen" bestimmt. Das ist genau so, als ob eine Last von seinen Schultern genommen würde. Warum sollten wir einander nicht diese Freiheit schenken?

Die Kundin im Back-Shop sah nicht gerade danach aus, als ob sie alle materiellen Reichtümer dieser Welt besitzen würde. Doch sie strahlte eine Ruhe und Zufriedenheit aus, und genau das, war ihr Reichtum. Nun brauchte sie nur noch ein halbes Brot und dann war sie wirklich glücklich.







 

Mittwoch, 19. Oktober 2016


Das Klassentreffen


„Wie doch die Zeit vergangen ist“, das ist wohl der häufigste Satz, der bei einem Klassentreffen zu hören ist. Beim Blick auf das Foto von der Einschulung hat mancher schon Schwierigkeiten, sich selbst noch zu erkennen. Um wie viel mehr, wenn man einstige Mitschüler nach der Schulentlassung zum ersten Mal nach 50 Jahren wieder sieht.
Da steht dann eine Gruppe völlig fremder Menschen auf dem Hof der ehemaligen Schule. Bin ich hier wirklich richtig? Natürlich, das Klassentreffen soll doch heute hier stattfinden. Verunsichert gehe ich auf die Gruppe älterer Leute zu. Nur nichts anmerken lassen, ist jetzt die Devise. Und es klappt. Andere sind scheinbar nicht so verunsichert wie ich und kommen gleich auf mich zu. Habe ich mich etwa nicht so sehr veränder? Jedenfalls fliegt mir gleich eine ehemalige Schülerin um den Hals und begrüßt mich herzlich. „Ach wie schön, sich nach so langer Zeit mal wiederzusehen“, stammele ich noch etwas benommen. Wer das eigentlich war, weiß ich immer noch nicht.

Alles klärt sich später sicher noch auf. Dazu sind ja solche Klassentreffen da. Wen ich aber zuerst erkenne, ist ein alter Lehrer. Na gut, alt war er für uns Schüler damals schon. Jetzt ist er 80 Jahre und wir sind auch alle weit in den Sechzigern. Wie doch die Zeit vergeht! Und so manches ist auch an uns vergangen. Bei den männlichen Mitschülern sind die Haare erheblich weniger geworden und die Stirn geht nun fast bis zum Nacken. Die Gesichter sind markanter geworden. Gezeichnet von Lachfalten oder von den Sorgen der letzten Jahre. Alles gestandene Frauen und Männer.

An keinem ist das Leben spurlos vorüber gegangen. Davon ist dann auch in den nächsten Stunden des Klassentreffens viel die Rede. Nach einer gewissen Zeit kann sogar ich die einzelnen Mitschüler wieder so einigermaßen den alten Namen zuordnen. Und ich staune immer wieder neu, was sie von mir und der Schulzeit noch  alles zu berichten wissen. Vieles davon halte ich einfach für eine ganz normale Legendenbildung nach so langer Zeit. Bei diesem Austausch von alten Schulgeschichten verging auch an diesem Tag die Zeit wieder wie im Flug.

Klassentreffen geben einem die Gelegenheit, Einblicke in das Leben der ehemaligen Mitschüler zu bekommen, mit denen man in seiner Kindheit über Jahre die „Schulbank gedrückt“ hat. Hier verknüpft sich die Frage nach der vergangenen Zeit, mit der Frage, was hat jeder damit gemacht oder was hat sie mit ihm gemacht? Die äußerlichen Veränderungen der einzelnen im Vergleich zu den alten Klassenbildern sind doch unverkennbar. Aber es ist noch so unendlich viel mehr geschehen. Aus den fröhlichen Kindern sind reife Erwachsene geworden, die schon wieder Kinder und Enkelkinder haben. Manche Ehe ist gescheitert. Der nächste musste den Verlust eines Partners verkraften oder gar den tragischen Tod eines Kindes. Andere sind selbst durch Krankheiten schwer gezeichnet und konnten nicht dabei sein. Und eine ganze Reihe der ehemaligen Mitschüler ist schon im Laufe der vergangenen Jahre verstorben. Auch um sie ging es in den Gesprächen an diesem Tag immer wieder.

So ein Klassentreffen ist ein regelrechtes Fest der Erinnerung. Aber auch ein Anlass zur Selbstreflexion. Keiner von den ABC-Schützen, die auf dem Bild von der Einschulung so erwartungsvoll in die Kamera schauten, konnte wissen, wo sie oder er nach 60 Jahren stehen werden. Alle haben sich auf den Weg in die Zukunft begeben. Jeder ist dabei seinen eigenen Weg gegangen, mit allen Höhen und Tiefen. Keiner hatte dabei einen „goldenen Weg“ und stets einen heiteren Himmel über sich. Darum ist alles Schielen auf die vermeintlichen Erfolge und Stärken der anderen einfach nur müssig. Die Wirklichkeit ist immer eine andere. Und alles hat seine Zeit und auch seinen Preis.

Klassentreffen lassen uns das Leben der anderen und das eigene Leben wieder realistischer sehen. Die Erinnerung wird mit der Realität konfrontiert. Das macht etwas traurig, aber zugleich auch wieder froh. Mit diesen und anderen Gedanken im Kopf und einem guten Gefühl im Bauch fahre ich ganz zufrieden zurück nach Hause.


Donnerstag, 6. Oktober 2016


Der Rote Turm, der  gar  nicht  rot ist

In Halle an der Saale steht auf dem Marktplatz ein markanter Turm. Es ist der „Rote Turm“. Viele Male bin ich schon daran vorbei gegangen, habe auf die Turmuhr geschaut, die sich dort oben befindet, und habe mir  nichts  weiter gedacht. Doch als ich im letzten Sommer einigen Besuchern die Stadt zeigen wollte, stolperte ich förmlich über diesen Turm. Genauer gesagt über dessen Namen: „Roter Turm“. Da fiel mir eigentlich erst auf, dass  der Turm doch gar nicht rot ist.

Meine Recherchen ergaben daraufhin ganz unterschiedliche Deutungen. Eine geht davon aus, dass das ursprüngliche Kupferdach rot erstrahlte, der wahrscheinlichere Grund ist der, dass dort am Turm das sogenannte Blutgericht abgehalten wurde. Ein dritter Grund ist die Annahme, dass sein Name einen Bezug zum Namen des am Bau beteiligten Architekten Johannes Rode hat und deshalb der „Rode-Turm“, später  der rote Turm genannt wurde. Wie es auch sei, heute gehört der rote Turm, der gar nicht rot ist, zur Silhouette der Stadt Halle und nur wenige wundern sich über den Namen.

Beim Nachdenken darüber kamen mir noch weitere Bezeichnungen und Namen in den Sinn, bei denen der Inhalt nicht oder nicht mehr mit der Sache übereinstimmt. Und trotzdem weiß jeder, was damit gemeint ist.

Handwerker messen noch immer mit ihrem „Zollstock“ die Länge einer Dachlatte oder eines Rohrs ab. Ursprünglich war das ein abgeschnittenes Stück Holz, mit dem Maß genommen wurde. Auch die spätere Maßeinteilung Zoll (ein Zoll gleich 2,56 cm) ist längst dem metrischen Maß gewichen und die heutige, korrekte Bezeichnung lautet „Gliedermaßstab“, die aber keiner benutzt. Wenn nun der Meister nach dem Zollstock verlangt, weiß jeder Lehrling, Verzeihung, jeder „Auszubildende“ gleich Bescheid und er bringt den „Zollstock“, der gar nicht mehr nach Zoll eingeteilt ist, zum Chef.

Selbst beim Telefonieren mit einem Smartphone kann man immer noch hören: „Der hat doch einfach aufgelegt“. Wie soll das eigentlich gehen? Bestenfalls drückt man die Taste zum Beenden oder wischt einfach über das Display. Trotzdem versteht jeder den gemeinten Sachverhalt. Das Gespräch ist beendet. Wie auch immer das gemeint war.

Natürlich hörte beim Geld schon immer die Freundschaft auf. Da wird genau auf Heller und Pfennig abgerechnet. Kein Mensch fragt sich dabei, wieso Heller und Pfennig? Haben wir nicht bereits seit dem Jahr 2000 Euro und Cent? Doch egal, die Bilanz muss einfach stimmen.

Und wenn an einer Stelle in der Gesellschaft die Mittel knapp sind, kommt prompt der Ruf, meistens aus der Opposition: „Da muss der Staat doch einfach mal „Geld in die Hand nehmen“, um diesen Zustand zu beenden. Wer nimmt  denn in solchen Größenordnungen noch Geld in die Hand? Dafür ist längst der elektronische Zahlungsverkehr üblich, bei dem die Geldströme weltweit bewegt werden. Selbst  Brot und Brötchen beim Bäcker werden immer häufiger mit EC-Karten bezahlt. Wer heute noch größere Summen Bargeld in die Hand nimmt, der macht sich leicht verdächtig, mit „Schwarzgeld“ zu hantieren. Deshalb wird ja zunehmend die Forderung nach der Abschaffung des Bargeldes sehr kontrovers diskutiert. Trotzdem weiß jeder, was damit gemeint ist.

Sicher sind Ihnen allen auch schon einmal solche oder ähnliche Bezeichnungen aufgefallen. Meistens denken wir uns gar nichts dabei. Es ist wie es ist. Das gehört zu unserer Sprache und zu unserem Leben. Manchmal ändern sich die Inhalte im Laufe der Zeit und trotzdem behalten wir die alten Bezeichnungen bei. Manchmal werden einfach neue Namen für alte Dinge erfunden und geprägt. Was vorgestern noch "Spitze" war, war gestern eher "cool" und ist heute "Mega geil" und morgen, wer weiß das schon?






Samstag, 3. September 2016


"Sie werden platziert!"

Erinnern Sie sich noch? Zu DDR-Zeiten stand vor dem Eingang der meistens überfüllten Gaststätten ein Schild mit der Aufschrift: „Sie werden platziert!“. Wurde dann nach längerem Warten ein Tisch frei, so wurden die Gäste zu diesem geführt. Wahlfreiheit gab es kaum. Wohl oder übel blieb einem nichts anderes übrig, als die zugewiesenen Plätze zu belegen. Trotzdem war jeder froh, einen Platz gefunden zu haben.

Auch zu einem festlichen Anlass werden häufig Tischkarten mit den Namen der Gäste auf die geschmückte Tafel gestellt und den Gästen so ein Platz zugewiesen. Das erspart dem Einzelnen zwar die Qual der Wahl, aber wo man seinen Platz bekommt, das bleibt oft ein Geheimnis der Gastgeber, die gerade diese Sitzordnung festgelegt haben. Man kann sich nun fragen, ob dahinter eine gewisse Rangordnung steckt? Oder ob vermieden werden soll, dass Gäste nebeneinander sitzen, die partout nicht zusammen passen? Sei es wie es sei. Meistens ist es bei Tisch und im wirklichen Leben das Gleiche, viele Menschen fühlen sich immer deplatziert und sind deshalb permanent unzufrieden und genervt.

Und schon geht das Gezeter los. Wieso sitzt der andere auf diesem Platz. Was hat er, was ich nicht habe? Natürlich schaut dabei jeder mit großem Frust nur auf die oberen und besseren Plätze im Leben, die grundsätzlich immer die Falschen besetzen. Dass andere vielleicht einen schlechteren Platz bekommen haben, interessiert da wenig. Solche Menschen fühlen nur sich selbst immer und überall benachteiligt und zu kurz gekommen.

Das scheint aber ein zunehmendes Problem in unserer sogenannten „Neidgesellschaft“ zu sein. Das Schielen auf die lukrativsten Plätze, das Drängeln danach und das Schieben und Verschieben solcher ist an der Tagesordnung. Und wer es nicht geschafft hat, ist derartig frustriert und genervt, dass er vor Neid nicht mehr richtig aus den Augen schauen kann. Dann ist alles nur noch ungerecht und grottenschlecht in unserem Land. Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft und im persönlichen Leben nicht gefunden haben oder ihn nicht akzeptieren können, werden zu nörgelnden und aggressiven Querulanten. Ein willkommenes Reservoir für alle extremen Strömungen und Parteien in unserm Land und zudem Gift für die ganze Gesellschaft. Unzufriedenheit, ob berechtigt oder nicht, führt leicht zu Unfrieden und Streit.

Im Leben geht es aber nicht in erster Linie um Ehrenplätzen oder einen „Platz an der Sonne“ zum Nulltarif, sondern jede Gemeinschaft und jede Gesellschaft funktioniert nur, wenn alle ihren Platz eigenen finden und alles dafür tun, ihn gut und richtig auszufüllen zum eigenen und zum Wohle aller.

Das ständige Schielen auf die besseren Plätze der anderen macht jeden nur noch missmutiger und zieht ihn weiter nach unten. Genau dorthin, wo er gerade nicht hin will, auf den untersten Platz.


Montag, 29. August 2016


Zwischen Todeswunsch und Lebenswille

Wie oft hat doch Tante Frieda in letzter Zeit schon gesagt: „Ach, am liebsten möchte ich sterben.“ Gleich darauf folgten auch schon ihre Worte: „ Ich darf nicht vergessen, meine Herztabletten zu nehmen, erinnert mich bloß daran“. Sie ist ständig  hin und her gerissen zwischen Todeswunsch und Lebenswillen.

Inzwischen ist sie fast 93 Jahre alt. In den zurückliegenden Jahren hat sie viele Krankheiten und altersbedingte Leiden er-tragen müssen. Von der einst tatkräftigen Frau ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die Knochen, die Gelenke, das Herz, die Lunge und anderes versagten immer mehr ihre Dienste. Schmerzen machten ihr das Leben schwer. Die unendlich vielen Medikamente bringen kaum noch Linderung, aber sie verlängern ihre Lebenszeit, Monat um Monat, Jahr um Jahr. Die Kinder im Haus, nun auch nicht mehr ganz jung, betreuen sie liebevoll rund um die Uhr, stets ängstlich um sie besorgt. Bei jedem kleinsten Hilferuf sind sie sogleich zur Stelle und rufen den Notarzt. Eine Katastrophenmeldung nach der anderen macht dann ganz schnell die Runde in der Verwandtschaft. Nun beginnt wieder das Hoffen und Bangen, wird sie es schaffen? Was soll sie eigentlich schaffen?

Vor kurzem ist Friedas Mann mit 94 Jahren verstorben. Auch wenn beide füreinander nicht mehr viel tun konnten, so haben sie sich doch wenigstens umeinander gesorgt. Einer hat den anderen gebraucht. Nach einem langen gemeinsamen Eheleben, das sie über 64 Jahre in guten und in schweren Zeiten miteinander verbunden hatte, ist der Tod des Partners besonders schmerzhaft. Tante Friede fiel in ein dunkles Loch von Trauer und Schmerz.

Da ließ auch der nächste tatsächliche Fall nicht lange auf sich warten. Tante Frieda stürzte in ihrer Wohnung und brach sich den Oberschenkelhals. Was für so manch anderen im hohen Alter fast den sicheren Tod bedeutet hätte, war für sie zwar eine harte Prüfung, aber noch längst nicht das Ende. Der Bruch wurde operiert und gleichzeitig wurde ihr eine neue Hüftprothese eingesetzt. Alles ist möglich!

Tante Frieda hatte es wieder einmal überstanden, obwohl es harte Wochen für sie im Krankenhaus und in der Reha-Klinik waren.  Aber auch für das Personal und ihre Besucher ist es nicht immer ganz einfach gewesen. Manchmal war sie nicht mehr sie selbst, sie war so unwirsch und verstört und wollte nur noch nach Hause und sterben.

Das aber hatte die heutige Medizin mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wieder einmal verhindert. Ihre Schmerzen sind sogar kurzfristig etwas erträglicher geworden. Doch die innere Ruhe und Zufriedenheit kehrten bei ihr nie mehr ein. Sie klammert sich zwar an das Leben und empfindet es gleichzeitig nur noch als schwere Last.

Der Satz von Tante Frieda: „Ich möchte sterben, aber vergesst meine Herztabletten nicht“, macht  ihre innere Zerrissenheit sehr deutlich. Solche Worte zeigen auch den Gemütszustand  vieler anderer Menschen in ähnlichen Lebenssituationen auf. Die meisten von ihnen werden ebenso zwischen Todeswunsch und Lebenswillen hin und her gerissen. Sie wollen sterben, aber sie können das Leben nicht loslassen.

Die Medizin hat es heute geschafft, das Leben hochbetagter Menschen um Jahrzehnte zu verlängern, jedoch kann sie keinem von ihnen die immer schwerere Last dieser Jahre nehmen. Diese Last müssen sie nun allein und ihre pflegenden Angehörigen tragen. Jeder auf diese Weise künstlich hinzu gefügte Tag wird gleichzeitig mehr und mehr zur physischen und psychischen Belastung für sie. Dieser Zustand, der mit einem enormen Aufwand an Medizintechnik und jeder Menge an chemischen Substanzen erreicht wird, und häufig als Erfolg angesehen wird, hat aber einen hohen Preis. Selbst die medizinisch erfolgreichsten Operationen führen höchst selten zu einem selbstbestimmten und erfülltem Leben der Hochbetagten und ihrer Pfleger.

In früheren Zeiten gaben sich die Menschen viel weniger der Illusion hin, das Leben ließe sich unendlich und unbedenklich verlängern. Sie waren sich bewusst, dass jedes Leben zeitlich begrenzt ist. Wo heute diese Grenzen mit allen Mitteln der medizinischen Kunst und um jeden Preis verschoben werden, da führt das zwar zu einer Verlängerung der Lebenszeit, aber auch zur Verlängerung der Altersbeschwerden und des ungewissen Abschieds. Dieser oft zermürbende Zustand wiederum muss dann durch immer mehr Medikamente beruhigt werden und das nicht ohne „Risiken und Nebenwirkungen“.

Da stellt sich doch die Frage: „Ist wirklich alles gut, was machbar ist?“



Samstag, 6. August 2016


Ein ruhiger Sommertag

Ein herrlicher Sommertag, nicht zu warm aber sonnig. Nach dem Frühstück auf dem Balkon mit frischen Brötchen, Marmelade und duftendem Kaffee, streckte ich mich wohlig aus und machte Pläne für diesen geschenkten Tag, der so friedlich und ruhig begonnen hatte. Selbst der Lärm von der Straße ist in den Sommerferien geringer als im  geschäftige Alltagsleben. Das lädt zum längeren Verweilen im Freien ein. Kurz um, das Leben ist doch schön!

Dann aber machte ich einen gewaltigen Fehler. Ich schaute auf mein Smartphone, um nur kurz meine Mails zu checken und die neuesten Nachrichten zu lesen. Und da war sie wieder die grausame Wirklichkeit. Der Traum von einem friedlichen Sommertag war augenblicklich geplatzt. Die News, wie es heute heißt, schlugen mir buchstäblich mit harter Faust ins Gesicht. Es waren die knallharten „Schlagzeilen“, die wohl keinen Leser unberührt lassen. Dazu auch gleich die selbstgerechten bissigen Kommentare von allen Seiten.  

Zwar sind wir in diesem Sommer schon an viele Schreckensmeldungen gewöhnt, denn täglich hören und sehen wir von Terror, Mord und Krieg. Die Namen der Orte werden schnell zu Pseudonymen für diese schrecklichsten Verbrechen. Wenn wir von Afghanistan, dem Irak oder Syrien hören, stehen uns sofort die Bilder von grausamen Bombenanschlägen, Massakern und Flüchtlingsströmen vor Augen. Ortsnamen wie Paris, Nizza und Saint-Etienne-du-Rouvray lassen uns erschauern angesichts der dort verübten Gräuel. So viele Morde an unschuldigen Menschen, so viel Leid!

Lange Zeit waren die Orte des Schreckens noch so weit weg von Deutschland und von uns. Jetzt hören wir die Namen von Städten wie Ansbach, München und Würzburg. Der Terror geht weiter und er kommt näher. Eine Nachrichtensendung und ein „Brennpunkt“ nach dem anderen berichten pausenlos und liefern Berichte über Details, die noch reine Spekulation sind. Manchmal kann ich es nicht mehr mit anhören. Wem nützt dieses sensationslüsternde Gehabe und Gerede? Eine Falschmeldung jagt die andere. Weiß denn heute keiner mehr, dass jemand, der nichts Neues beizusteuern hat, doch lieber den Mund halten sollte? Auch wird eine Meldung nicht dadurch richtiger, je häufiger sie wiederholt wird.

Es hätte so ein schöner, ruhiger Sommertag werden können. Doch wir leben in unruhigen Zeiten. Brennende Fragen nach dem – „wie weiter?“ – beschäftigen die Menschen. Je mehr wir lesen und hören und die vielen schrecklichen Bilder sehen, je weniger können  wir in dieser Flut erkennen, was eine seriöse Information und was blanke Meinungsmache ist? 

Ich weiß, dass es keine Lösung ist, den Kopf buchstäblich in den Sand zu stecken, sprich sich den News total zu verweigern. Ich weiß aber auch und spüre es ganz deutlich, zu viel davon tut mir nicht gut. Das macht mich selbst parteiisch und ungerecht, traurig und zugleich böse. Aber ich will mich nicht in diesen Teufelskreis von Halbwahrheiten und Lüge, von Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit, von blankem Hass und Unmenschlichkeit hineinziehen lassen. Nein das bin ich nicht. Nein, das sind auch viele andere Menschen nicht. Keinem tut es nämlich auf Dauer gut, ständig mit Negativmeldungen, Brandmarkungen und einer  Fixierung auf einseitig ausgewählte Reizthemen bombardiert zu werden. Es führt zu negativen Denken und Handeln.

Trotzdem bleibe ich auch zukünftig kritisch interessiert, aber eine gewisse Askese (Verzicht auf mediale Dauerberieselung) hilft mir, nicht nur die Schattenseiten des Lebens als einzige Wirklichkeit wahrzunehmen zu müssen, sondern mich wieder über das Gute und Schöne auf dieser Erde zu freuen und einen sonnigen Sommertag ohne schlechtes Gewissen zu genießen.





Montag, 6. Juni 2016


Grün ist beautiful“

Das, was hier wie ein euphorisches Parteitagsmotto der „Grünen“ klingen könnte, ist es aber bei Weitem nicht. Es handelt sich auch nicht um einen Werbeslogan der Vegetarier und Veganer, die für grüne Kost oder andere grüne Produkte werben, sondern es ist ein Ausruf des reinen Entzückens beim Blick in die unendlich grüne Landschaft, von der das Foto leider nur einen ganz kleinen Teil wiedergeben kann. Grün soweit das Auge reicht.
Nicht ohne Grund wird deshalb Irland ja auch die „grüne Insel“ genannt. Gerade im Monat Mai, wenn alles Grün noch ganz jung und frisch ist, wird jeder Betrachter von dieser grünen Vielfalt fast überwältigt. Er stellt mit Erstaunen fest, dass grün eben nicht gleich grün ist. Die Anzahl der Farbnuancen scheint schier unendlich zu sein. Blätter, Büsche, Bäume und immer wieder die saftigen Weiden, alles prangt im satten Grün. Je nach Lichteinfall und Sonnenschein wechseln die verschiedenen Grüntönungen von einem Augenblick zum anderen ihr Aussehen. Und doch wirkt dieses Farbenspiel nicht etwa unruhig, sondern es schenkt dem Auge des Betrachters Ruhe und führt zum inneren Frieden.

Abgesehen von der Hauptstadt Dublin und den wenigen größeren Städten Irlands, strahlt das ganze Land eine besonders ruhige und friedliche Atmosphäre aus. Das Leben geht in den ländlichen Gebieten noch immer langsam und beschaulich zu. Hier wird der gestresste Besucher schnell zu Ruhe kommen, wenn er sich darauf einlassen kann.
Und doch hatte gerade dieses Land in seiner langen Geschichte selbst so wenig Frieden und Ruhe. Die „grüne Insel“ war oft eher rot vom Blut der Menschen, die immer wieder ums blanke Überleben und gegen Unterdrückung von außen kämpfen mussten. Bis in die jüngste Zeit hinein gab es die schlimmsten Auseinandersetzungen zwischen dem britisch dominierten Norden  und dem Süden der Insel. Die Folgen von Bomben, Terror und Trennung sind bis heute noch besonders in Belfast in Nordirland zu sehen und werden den Besuchern dort gezeigt. Wie viel Blut ist doch auf beiden Seiten in diesem Land vergossen worden? Und noch immer sind Ungleichheit und die Trennung nicht restlos überwunden. Noch längst sind nicht alle Iren einander „grün“, wie wir es zu sagen pflegen, wenn einer mit dem anderen nicht zurechtkommt.

Zwar ist der lange Irlandkonflikt, der in der jüngsten Geschichte 3600 Terroropfer kostete und unendlich viel Leid über die Betroffenen brachte, aus den Schlagzeilen der Presse und den Nachrichten verschwunden und seit 1998 weitgehend befriedet, aber Gras ist noch lange nicht über alles gewachsen und wenn, dann ist die Grasnarbe sehr dünn und verletzlich. Noch heute werden in Belfast die von Katholiken und die von Protestanten bewohnten Stadtviertel von einer acht Meter hohen Mauer getrennt und die schweren Eisentore zwischen ihnen werden nachts immer noch geschlossen. Als wir beim unserem Besuch in Belfast davon hörten, konnten wir das fast gar nicht glauben. Wir mussten aber erfahren, dass die Angst vor Übergriffen noch tief sitzt und sehr real ist. Leider wird diese Trennung noch von Hardlinern auf beiden Seiten künstlich aufrecht erhalten. Die Gräben sind tief und die Mauern hoch. Abgrenzung kann aber auf Dauer keine Lösung sein.
Auch wenn es bei der jüngeren Generation jetzt Zeichen der Hoffnung und der Gemeinsamkeit gibt, denn sie haben im 21. Jahrhundert ganz andere Sorgen und Herausforderungen, als diese jahrhundertealte Konflikttradition zu pflegen, so wird ihnen doch von den älteren Genrationen diese schwere Last immer wieder auferlegt. Es kostet viel Kraft und guten Willen, sich davon zu befreien. Was für ein schweres und schmerzliches Erbe können doch die Taten früherer Generationen für die heute Lebenden sein?

Schuld und Versagen, Hass und Streit der Menschen sind also nicht nur persönliche Verfehlungen, sondern haben immer eine strukturelle Dimension. Sie sind wie ein Erbe, dass der Einzelne nicht einfach ablehnen könnte. Alles Handeln der Menschen bringt eine Nachhaltigkeit mit sich, die entweder als drückende Last erfahren wird oder sie schenkt Freiheit und Frieden.
Mauern aufzurichten, Stacheldrahtzäune zu ziehen  oder Gräben auszuheben ist verhältnismäßig leicht und geht oft sehr schnell. Sie aber wieder abzubrechen und zuzuschütten ist dagegen schwer, denn sie hinterlassen ihre Spuren ganz  tief im Denken und Fühlen der Menschen. Darum stellt es für jede Generation eine große Herausforderung für alle Verantwortlichen dar, was sie den nachfolgenden Generationen ins Herz pflanzen; Hass und Streit, der die Zukunft vergiftet und Leben zerstört oder Versöhnung und Liebe. Das Letztere sollte immer das Ziel jeden Handelns sein.

Diese Hoffnung schenkt Leben und diese Hoffnung ist so „beautiful grün“ wie Irland selbst, die „Grüne Insel“.

 

 

 

 

Donnerstag, 7. April 2016

Warum wollen nur noch Vier- und Fünfjährige Baggerfahrer werden?

Eine ganze Wand in seinem Kinderzimmer sollte unbedingt mit der Baggertapete beklebt werden. Das musste sein, das war der größte Wunsch des Vierjährigen. Sein Lieblingsspielzeug ist zurzeit ein großer Bagger mit beweglicher Schaufel und sogar einem Anhänger für die Erde und den Sand.
Aber er ist da wohl kein Einzelfall in seiner Altersgruppe. Immer wieder beobachte ich an der Baustelle in unserem Viertel, dass dort regelmäßig Väter und Mütter mit ihren Kleinen am Rand der Baustelle verweilen müssen. Fasziniert beobachten die Kinder mit großen, staunenden Augen die Bewegung der Kräne, verfolgen die Fahrt der Baufahrzeuge und natürlich die Bagger bei der Arbeit. Da müssen die Eltern schon eine große Portion Geduld aufbringen, um ihren Weg dann endlich fortsetzen zu können. Mancher der Knirpse hat sogar seinen kleinen Bagger dabei und beginnt sofort damit, das Gesehene auf dem schmutzigen Fußweg nachzuspielen, oft zum Entsetzen der Eltern.
Und da kommt mir der Gedanke, ob das nicht der Punkt ist, an dem Eltern beginnen, ihren Kindern den Beruf des Bagger- oder Kranfahrer systematisch auszureden? Auf der Baustelle ist es laut, staubig und die Arbeit auch heute noch ganz schön anstrengend. „Nein, unser Kind soll es doch einmal besser haben“, meinen die besorgten Eltern.  Wie ist es sonst möglich, dass gerade im Baugewerbe und im Handwerk die Lehrlinge und die Fachkräfte fehlen? Überall dort, wo noch richtig angepackt werden muss. Der frühe Wunsch der Kinder, später einmal etwas Praktisches zu machen, zu bauen und zu gestalten, wird schon bald als Kindertraum abgestempelt, beiseitegeschoben und als nicht realistisch eingeschätzt und in die frühkindliche  Märchenwelt verwiesen. Das war es dann auch schon.
Die Schule setzt mit ihren Lehrinhalten das Ganze später fort. Sie vermittelt jede Menge Wissensstoff, Zahlen, Gleichungen und Analysen, die aber zu wenig bis keinen praktischen Bezug zu einem späteren Beruf der Kinder haben. Handfestes Anpacken, ein Umgang mit Hammer, Zange und Nägeln wäre gerade für die Jungen eine willkommene Herausforderung. Doch Fehlanzeige! Da könnte es ja mal einen blauen Daumen geben, oh je. So werden die meisten Kinder ganz schnell weichgespült und verkopft. Und das zeigt schon bald Wirkung. Sehe ich an der gleichen Baustelle etwas ältere  Schüler vorbeigehen, so bemerken diese nicht einmal mehr, dass hier gebaut wird. Sie schauen bloß noch auf das Display ihrer Smartphone und tauschen Nachrichten aus. Worüber nur, frage ich mich manchmal?
Ihre Vorstellungen vom späteren Berufen sind nun, dank ihrer Erziehung, ganz andere geworden. Sie wollen schnell reich werden, also am besten gleich Banker werden. Sie wollen etwas erleben, also etwas mit Medien oder Tourismus machen. Es wäre toll etwas mit Menschen zu machen, ja in die Richtung „Soziales“ solle es gehen, keine Ahnung. Andere haben gleich gar keine Vorstellung, Hauptsache erst mal studieren. Ein Zweit- oder Drittstudium ist keine Seltenheit.  Und mit 30 ist noch lange nicht Schluss. An einen engagierten Start ins Berufsleben ist da nicht mehr zu denken.
Wie schafft es unsere heutige Gesellschaft mit ihrem Bildungssystem nur, so viele junge Menschen in der Schule heranzubilden, deren Köpfe mit Wissen, oder was andere dafür halten, vollzustopfen, was oft so wenig für das Leben taugt?  Heißt es nicht schon bei den Alten: „Non scholae, sed vitae dicimus“ - „Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir.“ Oder wie es schon Johann Wolfgang von Goethe sagt: „Ein Blick ins Buch und zwei ins Leben, das wird die rechte Form dem Geiste geben.“
Wo aber diese Einblicke ins wirkliche Leben den Heranwachsenden nicht mehr geboten werden oder sie ihnen als „kindliche Flausen“  schnellstens wieder ausgetrieben werden, da führt dies zu einer sehr eingeschränkten Wahrnehmung der Wirklichkeit und macht echte und gute Entscheidungen immer schwieriger.
Ist es deshalb etwa zu provokant zu sagen, manch junger Mensch  wäre  sicher ein guter Handwerker oder Baufachmann geworden, wenn er nur die Möglichkeit dazu bekommen hätte?
Wir brauchen dringend tüchtige Baggerfahrer, zuverlässige Lockführer und mutige Feuerwehrleute,  also Menschen, die Werte schaffen und schützen. Und all diese Menschen, die sich um das Wohlergehen anderer Menschen kümmern, die brauchen wieder unsere  Anerkennung und Wertschätzung.

 

 

 

 

 

Sonntag, 20. März 2016


Wer ist  eigentlich behindert?

 


Es war an einem Sonntagnachmittag, das weiß ich noch ganz genau, als ich bemerkte, dass ich behindert bin! Ich war damals ein junger Mann von 23 Jahren. Die Erfahrung war recht schmerzlich. Doch bitte falsches kein Mitleid. Das ist schon der erste Fehler in der Begegnung mit behinderten Menschen. Ja, es sind zu allererst Menschen, zwar mit unterschiedlichen körperlichen oder geistigen Behinderungen, aber es sind Menschen.
Meine so plötzlich aufgetretene Behinderung war jedoch von ganz  anderer Art, denn körperlich und geistig fehlte mir nichts. Das Ganze fing damit an, dass wir als Studenten an manchen Sonntagen in die „Pfeifferschen Stiftungen“ in Magdeburg gingen. Wir hatten uns freiwillig zu einem sozialen Dienst angeboten. So betraten wir das Gebäude, in dem behinderten Kinder untergebracht waren. Schon der Geruch verschlug mir fast den Atem und mein Magen fing an, sich leicht zu drehen. Doch was sollte es, wir wollten ja helfen, Nöte lindern und den Kindern etwas Freude schenken. Also hieß es durchatmen und durch. Man gewöhnt sich schließlich fast an alles! Oder?
Die körperlich und geistig behinderten Kinder freuten sich, als sie uns sahen und taten dies mit oft unartikulierten Lauten kund. Mit dem Personal, das gerade am Sonntag immer knapp war, wurde alles abgestimmt. Die Schwestern  waren froh, wenn sich jemand zusätzlich um die Kinder kümmerte. Bei schönem Wetter gingen wir mit ihnen im  Park spazieren oder schoben die Rollstühle hinaus. Eltern und Verwandte ließen sich nicht leider nicht oft sehen.
Alles war bereit, nun sollte es losgehen. Doch heute musste ich zuerst noch dem etwa zehnjährigen Jungen beim Anziehen seiner Jacke helfen. Und da geschah es. Ich merkte, dass ich der Behinderte war. Wie dumm muss ich mich wohl angestellt haben, ihm seine Armen in die Ärmel zu stecken. Besser muss ich wohl sagen, seine kleinen Hände, die sich direkt an seinen Schultern befanden, in die viel zu langen Ärmel der Jacke zu stecken. Der Junge war zwar schwer körperlich behindert, aber geistig völlig normal und ein helles Köpfchen. Mir läuft es heute noch kalt den Rücken herunter, wenn ich daran denke, was er mir sagte: „Stell dich nicht so dumm an, schau so musst du das machen. Das ist doch nicht so schwer.“
Doch ich war in diesem Augenblick der „Behinderte“. Ich kam mit dieser Situation einfach nicht klar. Später habe ich noch viele Menschen erlebt, die mit ihren Behinderungen leben und klar kommen mussten. Auch wenn es eine harte Schule war, so habe ich im Laufe der Jahre eine große Hochachtung vor allen Menschen mit einem Handicap gewonnen und ganz besonders vor denen, die sie pflegen und denen es gelingt, sie als Partner mit ihren Schwachpunkten aber auch mit ihren ganz speziellen Stärken zu sehen.
Ja, wir selbst sind häufig die „Behinderten“, die wir uns für stark, gesund  und so normal halten. Wir betrachten alles, was von unserer Norm abweicht, leicht für „unnormal“. Das führt dazu, dass wir nicht natürlich mit Menschen umgehen, die etwas anders sind. In dieser Situation neigen wir leicht zu einem übertrieben, weinerlichen Mitleid oder wir wenden uns ab, um sie nicht  sehen zu müssen. Nach dem Motto, was ich nicht sehe, das gibt es nicht. Dieses für uns „fremdartige“ Aussehen und Veralten hindert uns, normal zu reagieren. Das Anderssein dieser Menschen verunsichert, ja es kann sogar ängstigen und Aggressionen auslösen. Es behindert und verhindert  einen selbstverständlichen, fairen  und guten Umgang aller Menschen miteinander.
Meine so spontan aufgetretene „Behinderung“ an jenem Sonntag, war eine tiefe Erfahrung und hat mir letztlich gezeigt und deutlich gemacht, dass meine Vorstellung von Normalität nicht die einzige ist und schon gar nicht die richtige sein muss.

Mittwoch, 9. März 2016


Findlinge – Zeugen vergangener Jahrtausende


Sicher sind sie Ihnen auch schon einmal aufgefallen, die Findlinge. Sie liegen oft am Rande des Weges oder eines Ackerfeldes. Findlinge werden diese großen runden Steine genannt, die heute noch manchem Landwirt zu schaffen machen. Als würden sie aus dem Boden wachsen, tauchen sie an der Oberfläche auf. Sie sind  tonnenschwer und jeder wundert sich, wo sie eigentlich herstammen, denn in unmittelbarer Nähe lässt nichts auf ihre Herkunft schließen. Der Name „Findlinge“ macht gleichfalls auf die Unsicherheit über deren Ursprung deutlich. Diese erratischen Blöcke werden an Orten gefunden, wo sie gar nicht hingehören. So tragen sie zu recht noch heute den Namen, Findlinge!
Natürlich wissen wir inzwischen sehr genau, dass diese Kolosse uralte Zeugen der Eiszeit und ihrer Gletscher sind. Das meterhohe Eis der Gletscher hat diese Steine einst vor tausenden von Jahren aus den Bergen in das Vorland geschleppt oder sie von Skandinavien bis nach Norddeutschland transportiert. Über lange Zeiten und Distanzen wurden die Felsbrocken durch den enormen Druck unter dem Eis über das Geröll geschleift und dabei rundeten sich ihre Ecken und Kanten allmählich ab und sie erhielten ihre heutige runde Form.  Die enormen Eismassen haben so durch ihr Vordringen und das Zurückweichen in dieser unendlich langen Zeit ihre Spuren durch das Land gezogen, die wir in Form von Endmoränen und Flusstälern noch heute deutlich erkennen können.
Wir leben in  einer sehr schnelllebigen Zeit und können uns diese riesigen Zeiträume gar nicht richtig vorstellen. Bei uns muss alles immer schnell gehen und jeder Wunsch möglichst sofort erfüllt werden. Verglichen mit der schier unendlichen  Zeitpanne der Vorgeschichte unserer Erde und den Jahrtausenden der Geschichte der Menschen, ist natürlich das Leben des einzelnen Menschen ein kaum sichtbares Pünktchen auf dem Zeitstrahl der Entwicklung. Alles was außerhalb unserer eigenen Lebensspanne liegt, bleibt uns, bei allem theoretischen Wissen darum, doch irgendwie fremd und manches wirkt sogar unheimlich.

Findlinge üben auf mich eine ganz besondere Faszination aus. Sie erscheinen mir wie „fremde Wesen“ aus einer längst vergangenen Zeit. Aber sie erinnern mich auch an Menschen, die in sich ruhen und Gelassenheit ausstrahlen. Die in ihrem Leben so manches erlebt und erlitten haben. Die gleichsam all ihre Ecken und Kanten verloren haben auf ihrem Weg durch das Leben. Doch der Druck und die Lasten haben sie nicht zerstört, sondern gerundet und bewegt. Ihre Gedanken und Worte sind nicht oberflächlich und schnell vergänglich, sondern diese kommen aus einer großen Tiefe ihres Seins. Sie sind eher schweigsam und verhalten in unserer sonst so geschwätzigen Zeit, wenn sie aber sprechen, dann hat das Gesagte wirklich Gewicht. So manchem kommen sie eher fremd und etwas verloren in unserer heutigen Zeit vor, denn sie tauchen schon mal an Orten und zu Zeiten auf, wo sie keiner so recht erwartet. Sie sind dann einfach da und präsent und wirken deshalb für andere Menschen sogar eher störend.
Sie haben noch eine Ahnung davon, dass auch heute nicht alles schnell, schnell gehen muss, von jetzt auf gleich, sondern dass Vieles eben Zeit braucht. Sie denken in anderen Dimensionen und Zusammenhängen, weil eins oft nicht ohne ein anderes denkbar ist und schon gar nicht machbar. Solche Menschen sind für mich wie „Findlinge“ am Wege. Sie laden ein zum Ausruhen und zum Verweilen. Leider begegnen uns solche Menschen nicht oft an unseren Wegen, genau wie die Findlinge, werden sie immer seltener. Doch es lohnt sich, solche Menschen zu suchen und zu finden.
 
Wenn wir ihnen begegnen, sind sie nämlich für uns wie ein Geschenkt aus der Tiefe der Zeiten und des Lebens, wie die Findlinge auch, Zeugen einer anderen Wirklichkeit.

 

Mittwoch, 2. März 2016



Straßenhunde in Paraguay

 
Neulich schaute ich mir alte Dias von unseren Reisen aus den letzten Jahren an. Dabei wurden viele der Bilder ganz lebendig und so manche Begebenheit fiel mir dazu wieder ein.  Auch diese  von unserer Reise nach Paraguay. Das war so:
 
Sie, eine ältere Dame, hatte sich von ihrem Mann ganz einfach am falschen Hotel absetzen lassen. Als sie ihren Irrtum bemerkte, war ihr Mann mit dem Auto schon wieder weg. Nun suchte sie händeringend nach einer anderen Mitfahrgelegenheit, um doch noch rechtzeitig zum Treffen der Frauengruppe deutscher Einwanderer in Paraguay zu kommen. Am schönen Lago Ypacarai, dem größten See Paraguays, liegt die Kleinstadt San Bernadino, die 1881 von deutschen Einwanderern gegründet wurde. Unseren Rundgang am See und durch die Stadt wollten wir gerade mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Käsekuchen in der „Deutschen Bäckerei“ beschließen.
 
Da kam auch schon die Frau ganz aufgeregt auf uns zu. „Sie sprechen deutsch“, sprach sie uns. „Ja, wir sind aus Deutschland.“ „Ick bin die Rosi und komme aus Berlin“, sprudelte es aus ihr heraus. In kürzester Zeit erfuhren wir, dass sie schon einige Male in Paraguay war und  jetzt mit ihrem Mann hier am See in diesem guten Klima seit Wochen alles für ihre Einwanderung nach Paraguay vorbereiteten. Deshalb wollte sie ja auch zu dieser Frauengruppe, denn von ihr erhoffte sie sich viele gute Tipps. Man tauschte sich dort nämlich über alles aus, vom Brotbacken über den Umgang mit den Behörden im Land bis zur Information, wo der beste Fisch hier am See geräuchert wird. Aber das würde sie nun alles verpassen, wenn sie nicht schnellstens in das andere Hotel käme. Kurz und gut, sie würde uns auch einen Kaffee spendieren, wenn wir sie dorthin fahren könnten. Leider hatte sie  aber auch nur eine vage Vorstellung, wo das Hotel  so ungefähr liegt.
 
 Nachdem wir uns kurz in der Bäckerei umgesehen hatten und diese dann doch nicht den erwarteten Eindruck auf uns machte und Käsekuchen gab es auch nicht mehr, fuhren wir mit Rosi zurück in die Stadt. Während der Fahrt erzählte sie uns, dass Sie und  ihr Mann einen ruhigen Lebensabend in Paraguay verbringen wollen. Mit dem Ersparten und der Rente aus Deutschland kämen sie hier viel leichter und besser klar als in Deutschland. Und es lebt sich ja auch wesentlich ruhiger hier. Aber das viele Elend und die Armut machten sie schon sehr betroffen. Davor konnte sie die Augen nicht einfach verschließen. Und sie hatte beschlossen, hier zu helfen. Wir erfuhren also von ihr, dass sie sich gern sozial engagieren wolle. Sie hätte ja schon immer eine soziale Ader gehabt, meinte sie noch.
 
 Wir waren echt beeindruckt und gespannt, was sie denn für Projekte plante. Ja, sie wolle sich um die Straßenhunde kümmern, die täten ihr so leid. Wir sahen uns nur kurz an und schluckten leicht. Wir hatten nämlich bei unserer Reise in diesem Land schon ganz andere Probleme und sehr viel Armut gesehen, worunter die Menschen litten. Wenn man ihnen helfen würde, wäre sicher auch den Hunden geholfen, dachten wir noch. Doch da waren wir auch schon am Hotel. Rosi eilte schnellstens zu ihrer der Frauengruppe und schon war sie verschwunden. Wir tranken unseren Kaffee und bezahlten ihn selbst. Wenn aber wir in den Tagen nach dieser Begegnung mit Rosi, streunende Hunde auf den Straßen und Plätzen sahen, dann mussten wir unwillkürlich an Rosi und  ihr „soziales Engagement“ denken. Auch wenn wir selbst etwas andere Vorstellungen von einem „sozialen Engagement“ hatten, so war doch Rosis Vorhaben  immerhin ein kleiner Anfang in diesem Land. Straßenhunde gibt es in Paraguay genug, buchstäblich wie Sand am Meer.
 
Sagt man nicht, dass der Hund der beste „Freund des Menschen“ sei?  Warum sollte  es nicht auch umgekehrt der Fall sein? Helfen ist in jedem Fall besser, als gar nichts zu tun.

Sonntag, 7. Februar 2016

Gedanken beim Verlegen von Fliesen



Neulich habe ich das Gäste-WC im Haus der Familie meiner Nichte neu gefliest. Ich muss ihr wohl irgendwann erzählt haben, dass ich so etwas schon einmal gemacht habe. Nun ja, das lag  jedoch schon lange zurück. Zudem bin ich auch kein gelernter Fliesenleger. Als mich dann meine Nichte verbindlich fragte, wollte ich keinen Rückzieher machen und habe zugesagt. 
 
„Ja, ich  schaffe das“, sagte ich zu ihr,  aber noch mehr zu mir selbst. Nachdem ich mir die Maße aufgeschrieben, das Material begutachtet und Fotos vom „Tatort“ gemacht hatte, begann sich  das Gedanken- Karussell schon bald auch noch im Schlaf zu drehen. Skizzen wurden gemacht und Berechnungen angestellt. Ich fühlte mich herausgefordert, was ich ja immer noch sehr mag, und natürlich bei meiner Handwerker- bzw. Heimwerker-Ehre gepackt. Gut ausgerüstet mit Werkzeug und Arbeitskluft, machte ich mich auf den Weg.
 
Wer nun aber denkt, dass meine Berechnungen und Überlegungen mit der Realität vor Ort übereinstimmen würden, der irrt gewaltig. Ich kannte zwar aus meiner Lehrzeit noch den Satz aus der Tischlerei: „Keine Rückwand eines Schrankes ist poliert“, aber es kam doch immerhin bei der Genauigkeit auf den Millimeter an. Im Bau scheint das aber nicht zu gelten. Mein Entsetzen war groß. Keine einzige Wand, ob gemauert oder als Trockenbau, war im rechten Winkel, der Fußboden war uneben und die Höhen stimmten nicht überein. Da kam eine Menge zusätzliche Arbeit auf mich zu. Doch, „Ich schaffe das“, war die Devise.
Und so ging es auch schon los. Mit  einem modernen Lasergerät wurde eine waagerechte Linie für die Oberkante der Fliesen markiert und die Senkrechte ausgelotet. Als die ersten Fliesen dann an der Wand waren, stellte sich auch bald wieder eine  gewisse Routine eine. Der Anfang war gemacht. Auf ihn  kommt es an. Wenn hier etwas, im wahrsten Sinne des Wortes, schiefgeht, dann wird alles schief.

Damit bin ich auch schon bei meinen Gedankengängen, die über das Fliesenlegen im Besonderen und das Leben der Menschen im Allgemeinen hinausgehen, angelangt. Ich musste zuerst abwägen, ob ich das wirklich schaffe. Die nächste Frage war, wie schaffe ich das und in welcher Zeit? Natürlich bleibt bei all dem ein gewisses Risiko, Unwägbarkeiten und Probleme können auftreten. Beim Fliesenlegen kommt es zu Beginn auf eine gerade Linie an, woran sich alles Weitere orientiert, wie ich es schon beschreiben habe. Das ist aber auch auf alle Bereiche in unserem Leben zu übertragen, egal ob es um persönliche oder um gesellschaftliche Fragen geht. Eine klare Linie ist das A und O. Wo die Geradlinigkeit fehlt, kommt  alles schnell in eine Schieflage. Oder  wie es ein wahres Wort sagt: „Der Anfang geht mit“, ob es nun ein guter oder ein schlechter ist.

Wie oft muss denn heute in der Tagespolitik zurückgerudert werden, gilt das nicht mehr, was gerade noch gestern gemeinsam beschlossen worden ist?  Oft wird eben einfach zu dick aufgetragen. Beim Verlegen von Fliesen kommt es entscheidend darauf  an, wie dick der Kleber aufgetragen wird. Für jedes Format gelten dabei unterschiedliche Stärken. Mit den entsprechenden Werkzeugen wird das sehr genau erreicht. Diese Kenntnis sollte man schon haben und sich zudem an die Richtlinien und Vorgaben der Branche halten. Nur so ist die Haftung der Fliesen an der Wand sicher gegeben. Ein zu dicker Auftrag führt dazu, dass der  Kleber aus den Fugen quillt, alles verschmutzt und die Arbeit zusätzlich erschwert. 

Beim Fußboden muss besonders darauf geachtet werden, dass er tragfähig ist und die Fliesen eine gute Bodenhaftung haben und eine solche gewährleisten. Diese Bodenhaftung vermisse ich  allerdings bei allzu vielen Menschen, gerade in der Öffentlichkeit,  immer mehr. Das wäre aber ein ganz eigenes Kapitel.

Das Fliesenlegen erfordert also eine ganze Menge handwerkliches Können, einen sach- und fachgerechten Umgang mit den unterschiedlichen Materialien, einen Blick für die konkrete Raumsituation und ein ästhetisches Gespür, um ein ansprechendes Gesamtbild zu schaffen, welches noch durch die Gestaltung der Fugen hervorgehoben wird. Fugen dienen aber nicht nur der Ästhetik, sonder haben als Dehnungsfugen gerade im Bodenbereich, die Aufgabe Spannungen auszugleichen und Übergänge zwischen verschieden Materialien zu gestalten. Die Fuge ist also mehr als eine Lücke zwischen zwei Fliesen. Auch zwischen zwei oder mehr Menschen kommt es auf  den entsprechenden Abstand an, damit  es weniger zu Spannungen und Verwerfungen kommt.

Nach Beendigung meiner Fliesenarbeiten bin ich richtig stolz auf mich. Die übernommene Aufgabe ist erledigt, ich hab es geschafft! Und nebenbei sind mir noch einige Gedanken über das Fliesen und das Miteinander der Menschen gekommen, die ich Ihnen heute nicht vorenthalten wollte.