Donnerstag, 23. November 2017


Grau und unsichtbar

In letzter Zeit habe ich verschiedentlich die Aussage gehört: „Mit zunehmendem Alter wird man einfach unsichtbar“. Woher kommt dieses Gefühl und bereitet eben mit diesem "zunehmendem Alter" den Menschen solches Unbehagen? 

Es ist offensichtlich, dass in der heutigen Gesellschaft die Verfallszeiten für Produkte, Innovationen, Trends und Meinungen sehr kurz geworden sind. Jeder spürt es im Alltag selbst. Was heute noch „in“ ist, das ist schon morgen wieder „out“. Produkte und Angebote, die nicht den Zusatz „neu“ oder noch besser „new“ bei ihrer Vermarktung tragen, die werden gar nicht erst angesehen. Wird nach geraumer  Zeit ein bestimmtes Produkt doch noch einmal nachgefragt, dann heißt es nur achselzuckend: „Das ist schon längst nicht mehr am Markt. Wir haben da aber ein brandneues Gerät für Sie“.

Alles Neue hat seine eigene Faszination. Welcher Käufer, der etwas auf sich hält, möchte schon ein Smartphone der vorletzten Genration kaufen? Die Frage nach der Notwendigkeit oder der Sinnhaftigkeit für die Neuanschaffung wird dabei gar nicht erst gestellt. Jedenfalls bei nicht denen, die es sich leisten können. Die anderen sind sowieso außen vor. Es scheint ein regelrechter Zwang auf den Konsumenten von Technik, Mode und Meinungen zu liegen. Sie müssen einfach immer ab to date und hip sein. Wer in dieser schnelllebigen Zeit diesem Trend nicht mehr folgen kann, der verschwindet einfach und sehr schnell von der Bildfläche und wird so buchstäblich unsichtbar!

Genau dieses Gefühl und mehr noch, diese Erfahrungen, stecken hinter der erwähnten Aussage. Besonders diejenigen, die eine gewisse Altersgrenze überschritten haben, spüren es zunehmend deutlicher, dass sie raus sind aus dem Spiel. Sie sind nur noch Teil einer immer größer werdenden, grauen Masse.  Darum kommen sie sich vor, als wären sie unsichtbar, denn keiner scheint sie mehr wahrzunehmen. Ihre Meinungen sind von gestern und längst überholt, ihre Erfahrungen interessieren nicht. Frauen haben dazu sehr bald noch das Gefühl, dass sie keiner mehr anschaut. Ist es nicht so? Wer nicht mehr angesehen wird, der verliert auch bald sein Ansehen und seine Würde.

Dort wo der Blick nur noch auf die neue und glänzende Oberfläche gerichtet wird, quasi nur die attraktive Fassade zählt, da geht aber Wesentliches verloren. Natürlich sind  so auch die oft verzweifelten Versuche, sich jugendlich aufzupeppen, gut verständlich. Der Erfolg jedoch lässt meistens auf sich warten. „Sehen und gesehen werden“, ist vielen Menschen überaus wichtig. Grau, unscheinbar, unbedeutend und gar unsichtbar zu sein, das möchte so leicht keiner akzeptieren. 

Nun komme ich noch einmal zurück auf die resignierend klingende Aussage: „Mit zunehmendem Alter wird man / frau einfach unsichtbar.“ Was ist daran eigentlich so schlimm, frage ich mich? Haben wir uns nicht als Kinder oder sogar auch später noch manchmal gewünscht, unsichtbar zu sein? Bei dem Gedanken ging sogleich unsere Fantasie mit uns durch. Was hätten wir da nicht alles erleben oder still und heimlich beobachten können? Wir wären den anderen stets überlegen und einen Schritt voraus, denn wir könnten sehen, aber würden nicht gesehen. Ist das nicht eine faszinierende Vorstellung?

Menschen im öffentlichen Leben und im Rampenlicht sind einer ständigen Beobachtung und Bewertung ausgesetzt. Das ist ein enormer Dauerstress. Jedes Wort, jede Geste wird aufs Genaueste registriert, analysiert und nicht immer wohlwollend kommentiert. Deshalb sind sie gezwungen, sich immer perfekt nach dem neuesten Trend zu stylen und publikumswirksam darzustellen, denn wer bei anderen gut ankommen will, der darf sich keine Blöße geben. Der Preis dafür ist jedoch sehr hoch.

Wer aber dank seiner „Unsichtbarkeit“, solche vordergründigen Rücksichten nicht mehr nehmen muss, der kann völlig entspannt sein. Das ständige „Muss“ und der Zwang fallen von ihm ab. Sie oder Er können nun einfach und schlicht sie selber sein. Sie sind zwar äußerlich ergraut und damit so gut wie unsichtbar für die anderen, die ihren Blick nur oberflächlich auf das Äußere richten, aber sie selbst erleben auch eine große Freiheit. Es muss nicht mehr ständig betrauert werden, was vergangen ist, sondern es können neue Möglichkeiten erkundet und erprobt werden.  Jegliches konkurrierende Gehabe, alle Selbstdarstellung und die unwürdige Anbiederung an die Meinungen des Mainstream entfallen. Wer diese neue positive Sicht und Haltung in seinem Leben gewonnen hat, der muss nicht mehr auf dem Feld der Eitelkeiten kämpfen und um jeden Preis der Sieger sein. Das hat er einfach nicht mehr nötig. Ist das nicht eine echte Befreiung von inneren und äußeren Zwängen, die sich Menschen oft selbst auferlegen?  Es tut so gut, aus dem „Hamsterrad" der Eitelkeiten aus zu steigen.

Und doch ist das Äußere für unendlich viele Menschen ein so großer Wert, der über alles andere gestellt wird. Kein Preis ist ihnen dafür zu hoch. Dabei ist das Äußere eines Menschen, doch das Vergänglichste im Leben. Alles hat seine Zeit und alles fließt, das wussten schon die Alten. Ja, unser Leben fließt uns wie Sand durch die Finger.  Nichts bleibt für immer, schon gar nicht die hoch gepriesene Jugendlichkeit, die Schönheit und der äußere Schein. Die „Diktatur der Äußerlichkeit“, wie ich sie einmal nennen will, macht aber auch viele Menschen zu Verlierern und schiebt sie an den Rand der Gesellschaft. Nicht jeder ist stark genug sich diesem Diktat zu widersetzen. Aus diesem Grund fühlen sich mehr und mehr Menschen unwichtig, bedeutungslos und sogar unsichtbar. Sie passen nicht in das vorgegebene Schema. Das hat fatale Folgen, denn wer nicht mehr wahrgenommen und anerkannt wird, wie er ist, der neigt leicht zu irrationalen Gefühlen und die wiederum führen  zu einem krankhaften Verhalten.

Im Kult der heutigen Äußerlichkeiten unverantwortlich ausgeblendet, dass es sehr viel mehr und Wichtigeres im Leben der Menschen gibt. Es zählen ganz andere Dinge, die das Leben  bestimmen und erst wertvoll machen. Wer diese Erkenntnis, ja diese Weisheit im Laufe seines Lebens gewinnt, der hat es nicht mehr nötig, der Äußerlichkeit zu frönen, denn die wahren Schätze liegen oft tief im Inneren verborgen. Wer nur auf die Oberfläche starrt, der wird sie nicht entdecken. Das Unscheinbare und Unsichtbare ist häufig das Wertvollere. 

So ist es auch bei den Menschen. Nicht die „Reichen und Schönen“ sind auch gleich die besseren und wertvolleren Menschen, mit nichten, sondern es sind vielmehr gerade die Menschen, die unbeachtet geblieben sind. Sie sind nämlich ganz und gar nicht unwichtig. In turbulenten Zeiten wären sie eine echte Alternative. Genau diese Menschen fehlen zur Zeit in der Politik und der Gesellschaft. Die öffentlichen Plattformen für  Selbstdarsteller jeden Couleurs dagegen, sind gut besetzt. In kritischen Situationen sind Gelassenheit und Sachlichkeit viel entscheidender,  als jedes aufgeregte und hektische Polarisieren.

Darum wären reifte und charakterfeste Menschen, die in Anlehnung an einen bekannten Aphorismus,  in großer Gelassenheit Dinge hinnehmen können, die sie nicht oder nicht mehr ändern können und trotzdem den Mut haben, Dinge zu ändern, die sie ändern können, dringend nötig und ein Gewinn für uns alle. Vor allem aber werden solche Menschen in großer Weisheit das eine vom anderen unterscheiden können.  

  

Sonntag, 5. November 2017


Herbst – nur Verlust und Leere?

Mensch – Du kannst die Welt, Deine Welt riechen, schmecken, fühlen, ja mit allen Sinnen erspüren. Wer in diesen Tagen durch einen Park oder unter den Bäumen einer Allee entlang geht, der riecht ihn, den Herbst. Ihm strömt dieser markante, erdige Geruch, den die herabgefallenen Blätter der Bäume verströmen, sofort in die Nase.  Bald schon werden diese Blätter selbst wieder zur Humus, zu gutem Boden, auf dem neues Leben wachsen kann.

Ist es ein sonniger und trockener Herbsttag, dann rascheln die bunten Blätter unter den Füßen und es ist für die Kinder eine große Freude sich in einen Blätterhaufen fallen zu lassen oder die Blätter mit vollen Händen in den Himmel zu werfen. Der Wind trägt sie dann davon. Derselbe Wind ist es auch, der im Herbst die Papierdrachen aufsteigen lässt, die dann hoch am Himmel ihren farbenfrohen, ja fröhlichen Tanz in den Wolken zur Freude aller Zuschauer zeigen.

Doch aus dem Spiel der Blätter und der bunten Drachen im Wind kann ganz schnell bitterer Ernst werden. Nämlich dann, wenn der Wind zum Sturm anschwillt, der alles mit seiner enormen Kraft mit sich reißt. Es sind die gefürchteten Herbststürme, die Bäume entwurzeln und Dächer abdecken. Sie brausen über das Land und legen das sonst so mobile Leben für Stunden oder Tage lahm. Viele unterschiedliche Gesichter hat also der Herbst.

Dazu gehören auch die dunklen und nasskalten Tage und Wochen, wenn der Nebel uns einhüllt, wie eine feuchte Decke. Die Nebelschwaden wabern durch die Straßen und hängen den ganzen Tag wie ein bleischwerer Vorhang grau vor unseren Augen. Da wird das Sehen eher zum Tasten und Fühlen. Alle Fortbewegung wird verlangsamt. Die kalte Nässe benetzt unsere Haut und lässt uns schon mal frösteln. Jeden drängt es dann, schnell wieder ins Trockene und Warme zu kommen.

Doch das, was uns an solchen Tagen so unangenehm berührt und uns die Sicht nimmt und das Atmen schwer macht, wird ganz plötzlich über Nacht zu einer echten Überraschung. Welch ein Anblick, wenn wir am Morgen aus dem Fenster sehen. Die Kälte hat den Nebel und alle Feuchtigkeit erstarren lassen und es haben sich weiße, glitzernde Kristalle gebildet, die sich überall an den Zweigen der Bäume, auf den Rasenflächen, den Zäunen und Hecken festgesetzt haben. Der Raureif hat alles mit seinem weißen Zuckerguss überzogen. Alles scheint wie verzaubert. Doch ach, wie flüchtig ist doch diese Schönheit, ist dieser Zauber. Schon bald tropft es wieder nass und kalt auf uns herab von den Ästen und Zweigen der Bäume, so dass die Wege gefährlich glitschig werden. Nichts bleibt für immer, oft sind es nur kurze Momente des Glücks und der Freude. Die schönsten Augenblicke im Leben können wir nicht festhalten. Der Herbst lässt das für uns wieder einmal ganz deutlich werden.

Wenn etwas Schönes vergangen ist, sind wir traurig, weil es nicht mehr da ist. Der Herbst ist die Jahreszeit, in der alles Leben zurückfährt und so manches für alle Zeiten vergeht. Der Herbst in all seinen Facetten ist ein deutlicher Hinweis auf die Vergänglichkeit allen Seins. Die Blätter fallen und die Temperaturen auch. Der Nebel lässt die Sonne für Tage verschwinden. Die Sehnsucht nach Helligkeit und Licht macht manche Menschen förmlich krank. Nun bestimmt das eintönige Grau die Tage und Wochen. Auch die buntesten Herbstblätter sind längst unansehnlich und fad geworden. Sie werden am Boden zertreten. Nichts erinnert mehr an die schönen Farben des Sommers, an seine Wärme und die Helligkeit. Die Fülle ist der Leere gewichen. Positive Empfindungen sinken in den Minus-bereich ab, so wie die Temperaturen auch. Das  Gefühls-Barometer fällt fast ins Bodenlose.

Aus dieser Sicht auf die Dinge und die Menschen, drängt sich das Gefühl des Verlustes  deutlich in den Vordergrund. Da ist plötzlich etwas oder jemand einfach nicht mehr da. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Und es wird auch nie wieder so sein. Eine unendliche Leere umfängt dabei die Menschen. Sie sind nur noch auf ihre Verluste fixiert.

Es ist schmerzhaft, etwas oder gar jemanden zu verlieren. Doch der Schmerz wird nicht geringer, wenn wir nur noch auf den Verlust starren. Ist es da nicht viel wichtiger und befreiender für jeden, sich dankbar und froh daran zu erinnern, dass man viele schöne Dinge im Leben genießen durfte, einen Menschen geliebt hat oder von ihm geliebt wurde?

Der Herbst kann uns lehren, nicht nur auf die kahlen Bäume und Sträucher zu schauen, sondern uns gern und voll Dankbarkeit an die Farben und Düfte des Frühlings und des Sommers zu erinnern, die wir alle so selbstverständlich genießen durften. Dann können wir uns schon jetzt auf alles Neue und Schöne freuen.