Samstag, 20. April 2019


Die Erinnerung ist ein Fenster“

und der Dichter Reiner Maria Rilke fährt in seinem Gedicht fort, „durch das ich Dich sehen kann, wann immer ich will.“ 
Das ist doch ein schöner Gedanke und auch sehr tröstlich. Dieses Wort hat sicher schon so manchem Unglücklichen, der einen lieben Menschen verloren hat, in seiner Situation Trost und neuen Lebensmut geschenkt. Und weil diese Worte von einem bekannten Dichter stammen, werden sie gern als Zitat auf Trauerkarten oder bei Beisetzungen verwendet. Da geht es ja gerade um Verlust und Leere, die durch den Tod eines anderen Menschen entstanden sind. Der Verstorbene ist nun den Augen der Hinterbliebenen entzogen. Aber mit ihren inneren Augen können sie gleichsam durch das "Fenster der Erinnerung" schauen und werden ihn dort sehen. Oder, wie es Rilke so schön gesagt hat: „durch das ich Dich sehen kann, wann immer ich will.“

Erinnerung ist also etwas, was nicht von außen kommt, sondern aus dem Inneren eines jeden Einzelnen selbst. Der Mensch kann sich bewusst erinnern und durch das Fenster nach innen blicken. Was er dort sieht, ist demzufolge etwas sehr Subjektives, ganz Persönliches, was nur er sieht. Woran er sich im Rückblick aufrichtet oder was ihn betroffen macht. Nicht alle Erinnerungen sind auch gleich gute Erinnerungen.

Manch einer möchte sich deshalb lieber nicht erinnern, jedenfalls nicht an alles. Negatives wird deshalb oft in die letzte, dunkelste Ecke verbannt. Damit ist die naive Vorstellung verbunden, was ich nicht sehe, gibt es nicht. Irrtum. Denn irgendwann kommen diese Erinnerungen ganz von selbst an die Oberfläche. Das kann dann zu einer großen Belastung werden. Zudem kommen sie nicht nur, „wann immer ich will“. Der Blick in das eigene Innere lässt viele, schöne und tröstliche Bilder wach werden, die den Menschen zutiefst erfreuen und aufbauen. Diese möchte er am liebsten für immer festhalten. „Verweile doch, du bist so schön“, wie es in Goethes Faust heißt.

Erinnerung führt den Menschen zurück in sein Erlebtes und zeigt ihm Bilder aus der Vergangenheit. Dazu gehören Helles und Dunkles. Erst zusammen genommen ergibt sich ein Ganzes. Genau wie der Tag helle und dunkle Stunden kennt und die eine Münze eben zwei Seiten hat, so gehören die unterschiedlichen Bilder der Erinnerung auch zusammen. Leben kann nur ganzheitlich betrachtet werden und wird nur so, wenigsten etwas, verständlicher. Wer sich aber einseitig in seinen Erinnerungen verliert, und seien sie noch so schön und tröstlich, der verliert damit auch den Blick für das Leben im Hier und Heute. Das aber ist der Ort, an dem Leben sich ereignet.

Wenn Rilke in seinem Gedicht von einem Fenster spricht, dann sollte bedacht werden, auch Fenster haben zwei Seiten. Ein Außen und ein Innen. Man kann also durch ein Fenster in das Innere eines Hauses, eines Zimmers, blicken, aber genauso kann der Blick durch ein Fenster hinaus in die Landschaft, sprich das reale Leben gehen. Dieser Blick zeigt dann nicht nur das Vergangene, ob schön oder traurig, nein er zeigt das Gegenwärtige. Da gibt es immer lebendige Geschehnisse, Bewegungen und neue Herausforderungen zu erkennen. Jeder ist geradezu angesprochen, mitzuwirken, sich einzubringen. Keiner bleibt doch ein Unbeteiligter, ob er es will oder nicht.

Das, was der Mensch jetzt beim Blick aus dem Fenster nach draußen mit seinen Augen sieht, das fordert ihn zum Handeln heraus. Und keiner sollte sich täuschen, auch das Nichthandeln schafft oder begünstigt bestimmte Tatsachen. Genau an dieser Stelle kommen nun wieder seine ganz persönlichen Erinnerungen in den Blick. Aus früheren Fehlern und negativen Entscheidungen  kann jetzt der Mensch die richtigen Schlüsse ziehen und diese Fehler in der Gegenwart nach Möglichkeit unterlassen. Das Schöne und Gute aber, woran er sich gern erinnert, das wird ihm  sicher Motivation sein, es zu verstärken und auszuweiten.

Spätestens bei diesen Überlegungen tut sich nun bildlich gesprochen noch ein anderes Fenster auf, durch das der Mensch sehen kann, wann immer er will. Es ist das „Fenster der Hoffnung“. Der Blick durch dieses Fenster geht weit hinaus, sozusagen über den Horizont, der, wie Reiner Maria Rilke im gleichen Gedicht sagt, zwar die Grenze unseres Sehens ist, aber nicht die Grenze des Seins. Wer es schafft, aus diesem Fenster zu blicken, findet seinen Halt bei allen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten des Lebens. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Oder auch nicht?


Samstag, 6. April 2019



„Hannibal ante portas“ –  oder die Bagger kommen!

Plötzlich herrschte eine riesige Aufregung in dem, sonst so verschlafenen, kleinen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Na ja, Dorf kann man diesen Ort eigentlich gar nicht nennen. Es ist nicht mehr und nicht weniger eine Ansammlung von Häusern entlang der Dorfstraße, die früher als Unterkünfte für die Landarbeiterfamilien dienten. Diese aber waren alle samt auf dem ehemaligen Gut in Grammow beschäftigt. Heute bilden sie den Ort Grammow. Der Ort mit seinen etwa 145 Einwohnern liegt eher abseits allen Geschehens. Die Zufahrt zu dieser Siedlung mündet auf der sogenannten Dorfstraße. Diese aber endet in beiden Richtung auf einem Feldweg und verliert sich zwischen den Ackerflächen. Damit ist der Ort vom störenden Durchgangsverkehr verschont und in dieser Hinsicht ungestört und ruhig. Kommt tatsächlich einmal ein Fremder in den Ort, so wird der gleich von den Bewohnern neugierig beäugt, doch meistens ist die Dorfstraße fast menschenleer. Wer pulsierendes Leben erwartet, ist hier falsch. Man bleibt halt gern für sich und lässt es ruhig angehen.

Diese Abgeschiedenheit könnte ja auch ganz idyllisch und schön sein, doch das kommt nicht von Ungefähr. Die Ursache dafür ist nämlich die Autobahn, genauer die A 20, die in unmittelbarer Nähe vorbeiführt und ihr Geräuschpegel seit ihrer Fertigstellung Tag und Nacht als ein permanentes Summen und Rauschen, je nach Windrichtung, mal lauter und mal leiser, zu hören ist. Das singt den einen vielleicht sanft in den Schlaf, anderen wiederum raubt es diesen.

Ach ja, die Windrichtung ist auch in anderer Hinsicht und für das Wohlbefinden im Ort sehr entscheidend. Kommt der Wind nämlich aus westlicher Richtung, dann weht er, wie soll man es vornehm ausdrücken, die schweren „Düfte“ einer intensiven Tierhaltung und der „Bioenergie Grammow GmbH & Co“ über den Ort und seine Bewohner. Dann gilt es auch bei schönstem Sommerwetter, die Fenster und Nasen zu schließen.

Sollten aber ausnahmsweise einmal diese Lärm- und Geruchsbelästigungen etwas geringer als üblich ausfallen, dann kann man garantiert darauf warten, dass schon bald die nächste Störung einsetzt. Sie kommt von den allgegenwärtigen Rasentraktoren und den knatternden Rasenmähern. Damit ist vom frühesten Frühling bis hinein in den später Herbst jederzeit und zu jeder Stunde zu rechnen. Ganz besonders störend ist das jedoch in der Mittagsruhe und am Wochenende. Gerade dann aber sitzen wohlbeleibte Männer stolz auf ihren kleinen, und lauten Traktoren. Sie mähen Stunde um Stunde den Rasen in ihren Grundstücken millimeterkurz. Da könnte sich garantiert jeder Golfplatz  dahinter verstecken.

Doch plötzlich war es in der letzten Woche mit dieser dörflichen Ruhe und dem Frieden schlagartig aus. Es war der 26. März 19 und dieser wird immer ein denkwürdiger Tag bleiben. Was war geschehen? Ach ja, „Hannibal ante portas“, wie der Lateiner sagt und damit an den karthagischen Heerführer Hannibal erinnert, der mit seinem Heer und den gefürchteten Kriegselefanten vor den Toren der Stadt Roms auftauchte, sodass die Römer in hellste Aufregung, ja in Panik, gerieten.

Auch in Grammow herrschte schlagartig eine ähnliche, panikartige Aufregung. Es tauchten nämlich riesige gelbe Ungetüme im Ort auf. Das waren zwar keine trompetenden Kriegselefanten, sondern die Bagger einer Abrissfirma. Und dann geschah es auch schon. Damit hätte  wohl keiner der friedlichen Einwohner ernsthaft gerechnet. Der erste Bagger fuhr vor das alte Gutshaus in der Mitte des Ortes und stieß ein riesiges Loch mit seiner eisernen Baggerschaufel in dessen Rückwand.

„Welch ein Schande, welch eine Frechheit“, empörte sich ein Teil der überraschten Einwohner.  Sollten hier etwa gegen ihren Willen Tatsachen geschaffen werden? Das galt es zu verhindern. Nach diesem zerstörerischem Eingriff in die Bausubstanz des Gutshauses, das war ihnen klar, wäre das Haus nicht mehr zu retten. Alle ihre romantischen Vorstellungen vom seinem Erhalt waren damit zunichte gemacht. Die Empörung der Verfechter für die Erhaltung des Hauses, aber auch  ihre Ratlosigkeit wuchsen.  "Haus oder nicht Haus", war nun die Frage.

Das leerstehende und ziemlich heruntergekommene Gutshaus ist schon seit vielen Jahren, ach, inzwischen fast seit zwei Jahrzehnten, der Stein des Anstoßes in diesem kleinen mecklenburgischen Ort. Für die einen ein Schandfleck, der weg gehört, für andere aber das „Herz“ und die „Zierde“ des ganzen Ortes, das es um jeden Preis zu erhalten galt. Darum musste der „bösartige und heimtückische Angriff“ auf das ehemalige Gutshaus unweigerlich die Gemüter der, eher stillen und meistens behäbigen, Einwohner erhitzen. Was zu viel ist, ist zu viel. Das bringt auch den friedlichsten Mecklenburger aus der Fassung. Der Schlagabtausch mit gegenseitigen Vorwürfen und Beschuldigungen war neu entfacht.

Von einem Augenblick zum anderen überschlugen sich die Ereignisse. Eine dringende Krisensitzung des Vereins zur Erhaltung des Gutshauses wurde eilig einberufen, Einwohner eingeladen und mobilisiert, die Presse informiert, Proteste angekündigt, Transparente und Plakate gemalt  und an den Zäunen aufgehängt. So zierten am nächsten Morgen, man traute seinen eigenen Augen kaum, die Dorfstraße eine ganze Reihe dieser Zeugnisse der Entrüstung und des Widerstandes. Da stand, mit zitternden Händen und voller Zorn und Verzweiflung geschrieben, mehr oder weniger sinnreich, aber aus ganzem Herzen kommend und der Verzweiflung freien Lauf lassend:
„Wir müssen zusehen wie eine Stück Geschichte zusammengeschoben wird“ oder „Wir haben alles gegeben“. Selbst das letzte Bettlaken, wie manch schelmisch meinte. Es fehlte eben nur noch, dass die Klima- und Umweltaktivistin Greta persönlich am Ort des Frevels, an der nun tief klaffenden Wunde am Gutshaus, sich dem vehementen Protest der Verteidiger anschließen würde. "Das Gutshaus darf nicht sterben!" Es lag eine emotionale Spannung in der Luft, dass war buchstäblich fast körperlich zu spürbar. 

Jetzt endlich müsste doch der geneigte Leser fragen: „Um was geht es hier eigentlich? Was ist das für eine absurde Geschichte?" Stimmt, das ist wirklich eine längere und sehr verworrene Geschichte. Und wie schon gesagt, der Ort Grammow liegt etwas abseits. Da geht eben manches anders und ein bisschen langsamer.  Doch kurz gesagt, es geht schon allzu lange um das alte Gutshaus von Grammow. Es muss einst wirklich ein Schmuckstück in der, durch Viehzucht und Ackerbau geprägten Mecklenburger Landschaft  gewesen sein. Umgeben von einem gepflegten Park und einem schönem Teich. Die Zierde der kleinen Ortschaft und der Mittelpunkt des dörflichen Lebens. 

Diese Zeit ist jedoch seit 1945 längst zu Ende. Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Gutsherr und seine Familie vertrieben. Im neuen Deutschland brauchte man keine "Herren" und keine "Herrenhäuser" mehr. Darum wurde in den Zeiten des Sozialismus darin ein Kindergarten eingerichtet. Es gab auch einen großen Saal für die Werktätigen zum Feiern und sogar eine Kneipe. Alles volkseigen. Den Park teilten sich die Bewohner als Gärten auf. Der Teich im Park diente nun ihren schnatternden Enten als ihr Refugium. Alles war ja Volkseigentum und jeder bediente sich, wo er nur konnte. Das wollte man auch nicht wieder aufgeben.

Nach dem "Aus" der DDR 1989/90 und der volkseigenen Wirtschaft, ging es dann noch rasanter mit dem Haus bergab. Es hatte seine gesellschaftliche Funktion rasch verloren. Trotz dieses desolaten baulichem Zustandes, übernahmen nach der Wende entfernte Verwandte der ehemaligen Gutsherrenfamilie das Gutshaus und zogen ein. Die junge Familie hatte allen Mut der Welt und viel Optimismus mitgebracht. Sie wollten das alte Haus wieder mit Leben erfüllen. Das war aber nicht so einfach. Sie waren Fremde und noch dazu aus dem Westen. Das gefiel nicht allen Alteingesessenen im Ort. Manche Unternehmungen ihrerseits wurden sogleich blockiert oder ganz verhindert.

Fazit, das Haus stand alsbald wieder leer. Der Sturheit so mancher Bewohner des Ortes war die Familie einfach nicht gewachsen. Und wieder folgte  Leerstand und damit zunehmender Verfall. So kam, was kommen musste. Wind und Wetter taten über die Jahre das Ihre dazu. Ein Brand im Haus vernichtete einen Teil des Dachstuhls. Seit Jahren schließt nun eine hässliche Plane provisorisch das Loch im Dach. Das Haus ist in diesem erbärmlichen Zustand schon seit Jahren keine Zierde und längst kein Schmuckstück mehr, eher ein Schandfleck für den Ort und seine Bewohner. Zudem ein permanenter Zankapfel.

Alle gut gemeinten und doch häufig wenig zielführenden Versuche zur Rettung und Erhaltung des Gutshauses scheiterten oder schliefen bald wieder ein. Investoren kamen und gingen. Realistische Konzepte fehlten. Befürworter und Gegner blockierten sich gegenseitig. Schon lange ging es tatsächlich nicht mehr um das Haus, sondern nur darum, wer sich letztendlich durchsetzt. Für die Gemeindevertreter wurde das Haus zu einer ständig drückenderen Last. Darum musste endlich gehandelt werden. Das war schließlich ihr Auftrag. So wurde als letzte Konsequenz der Abriss des Hauses beschlossen.


Das brachte natürlich die Gegner des Abrisses wieder auf den Plan und sie zogen von Haus zu Haus, um Unterschriften zu sammeln. Dabei  trugen sie eine ganze Reihe davon  zusammen. Es schien ja auch nicht allzu schwierig zu sein, gegen den Abriss und für den Erhalt zu votieren, denn das kostete keinem Unterzeichner persönlich irgendetwas. Die Fronten waren jedenfalls klar und jede Seite fühlte sich im Recht oder wenigsten moralisch legitimiert. Fakten wurden mehr und mehr zur Nebensache. Der Worte waren eh genug gewechselt, nun sollten Taten folgen.

Dann  war es am besagten Tag soweit. Die Bagger rückten an. Der Abriss begann. Alle Genehmigungen lagen dazu vor, die Fördermittel standen bereit. Der Widerspruch gegen den Abriss wurde abgewiesen. Der "Schandfleck" sollte endlich verschwinden und an seiner Stelle ein schön gestaltetet Dorfplatz für alle Bewohner entstehen. 

Mit seiner mächtigen Schaufel zerstörte der Bagger dabei aber nicht nur die Rückwand des Hauses, sonder auch ein für allemal die sozial romantischen Träume einer Initiativgruppe zur Rettung und Erhaltung des einstigen Gutshauses. Doch welch ein Wunder, im Dachstuhl des Hauses wurden partout in letzter Sekunde Fledermäuse entdeckt, die sich dort häuslich eingerichtet hatten. 

Also Kommando zurück, Baustopp. Aus - die Fledermaus! Und täglich grüßt die Fledermaus!