Sonntag, 14. November 2021

 Bilder, die Erinnerungen wecken

Buchstäblich wie von Geisterhand tauchen die winkenden Kinder eines Kinderheims in Brasilien, das ich vor Jahren besucht habe, auf dem Bildschirm meines Computers wieder auf. Dieses und viele andere Fotos, die im Laufe der letzten zwanzig Jahre bei meinen Reisen durch zahlreiche Länder und bei anderen Gelegenheiten entstanden sind, füllen inzwischen zu Tausenden die Dateien auf dem PC.

Ein „Zufallsgenerator“ holt sie unsortiert aus den Tiefen des Rechners auf meinen Bildschirm. Dort erscheinen sie kurzeitig als Hintergrundbilder auf dem Schirm. Manchmal bin ich selbst überrascht, was da alles wieder auftaucht. Das weckt viele Erinnerungen an Ereignisse, die häufig lange zurückliegen. Es erscheinen wunderschöne Landschaften, gewaltige Gebirgs-regionen in den Anden oder lange, einsame Stände am Pazifik, exotische Blüten in all ihrer Farbenpracht und Vielfältigkeit, aber auch Elefanten an einem  Wasserloch in Botswana oder ganze Herden von Antilopen und Zebras in der Etosha-Pfanne in Namibia. Da sind Fotos von Fahrten auf endlos erscheinenden Highways durch die Wälder Kanadas und Alaskas sowie durch den roten Sand im Outback von Australien. Natürlich taucht auch der berühmte  „Ayers Rock“, heute „Uluru“ genannt, ein gigantischer Monolith, im leuchtenden Rot der Abendsonne auf. Es folgen Bilder von einer Radtour an der Ems, von  Wanderung im heimischen Harz, Fotos von Familienfeiern und vielen anderen Ereignissen, die hier gar nicht alle genannt werden können. Das zu sehen, erstaunt mich immer wieder selbst. All diese Bilder werden wie in einem riesigen Fotoalbum vor meinen Augen sichtbar. Mit allen Bildern verbinden mich viele Erinnerungen. Auch nach langen Jahren kann ich mich oft noch genau erinnern, wie und wo das jeweilige Bild entstanden ist. Die meisten Fotos sind dabei Momentaufnahmen, die etwas von den Orten und dem Augenblick des Geschehens einfangen, festhalten und sichtbar machen.

Dazu gehören zahlreiche Fotos von Menschen, die mir im Laufe der Jahre begegnet sind oder mit denen ich unterwegs war. Sie alle erzählen eine kleine Geschichte und erinnern sowohl an alltägliche, als auch an besondere Ereignisse. Diese Momente sind in den Bildern festgehalten, förmlich eingefroren. Nun werden sie gleichsam wieder aufgetaut und lebendig. Am deutlichsten wird mir das bei Bildern, die recht abenteuerliche Situationen festgehalten haben. Da steckt zum Beispiel unser Auto bis zu den Achsen im unwegsamen Gelände in der Mongolei im Dreck fest. Auch der geplatzte Reifen unsers Jeeps in der Afrikanischen Savanne ist auf einem Foto zusehen. Der eingegipste Arm eines Reisegefährten, den wir ins Hospital am Rande der Wüste im Sultanat Oman bringen mussten, erscheint im nächsten Bild. Ja, an solche und ähnliche Situationen erinnern viele der Fotos.

Beim Anschauen atme ich noch heute förmlich auf und denke: „Gott sei Dank, dass wir das alles bewältigt haben. Es gleicht im Nachhinein fast einem Wunder, dass wir selbst in abgelegen Gegenden immer Menschen fanden, die uns geholfen haben. Es hätte auch anders ausgehen können. Danke.“

Die ständig wechselnden Hintergrundbilder auf meinem PC lösen damit Freude und Erleichterung, aber auch Dankbarkeit aus. Dankbarkeit dafür, dass wir das alles  erleben durften. Das ist wirklich ein großes und bleibendes Geschenk. In Gedanken fühle ich mich allen sehr verbunden und freue mich beim Betrachten der Bilder. Die etwas älteren Fotos zeigen aber auch sehr deutlich, wie die Zeit vergangen ist und wie wir uns alle verändert haben.

Leben bedeutet eben Veränderung. Ob Orte oder Menschen, alles verändert sich. Altes vergeht, Neues entsteht. Wo noch vor ein paar Jahren ein verfallenes Haus in der Straße nebenan als hässliche Ruine stand, erstrahlt jetzt ein liebevoll restauriertes Gebäude. Das kleine Bäumchen im Garten ist zu einem stattlichen Baum herangewachsen. Aus dem spielenden Kind im Sandkasten ist ein junger Mann geworden, der selbstbewusst in die Kamera schaut. Man hält es oft kaum für möglich. Verwundert und erstaunt frage ich mich: „Hab ich mich auch so verändert?“ Es wird wohl so sein. Auch wenn man es nicht wahrhaben möchte, die anderen haben es schon längst gemerkt, auch wenn sie es rücksichtsvoll nicht so deutlich zeigen.

Tauchen aber Fotos von inzwischen Verstorben auf, dann macht mich das jedes Mal sehr betroffen. Mir wird dann schmerzlich bewusst, dass es den guten Freund, meine Eltern und andere Menschen, mit denen mich so vieles im Leben verbunden hat, nicht mehr gibt. Ihre Fotos zeigen sie noch in ihrer Lebendigkeit und Lebensfreude. Ihre Gesichter, ihr Lachen und ihre vertrauten Gesten erfüllen mich deshalb heute mit umso größerer Dankbarkeit. Mir wird sehr bewusst, was ich ihnen alles zu verdanken habe. Lange Gespräche kommen mir wieder in den Sinn. Stunden gelöster Geselligkeit bei einer Flasche Wein. Gute Ratschläge und praktische Hilfe. Da mag wohl etwas Wehmut aufkommen. Doch gilt nicht etwas anderes viel mehr? 

Die gemeinsame Zeit ist zwar vorbei und das mach wirklich sehr traurig, aber die Erinnerung daran lässt mich auch sehr dankbar und froh sein. Froh und dankbar, weil jeder von ihnen, auf seine ganz eigene Weise ein Teil meines Lebens war und es auch bleiben wird. Darum bin ich immer wieder aufs Neue gespannt, wenn ich  meinen Computer einschalte, welche Bilder auf dem Bildschirm erscheinen und welche Erinnerungen mich mit ihnen verbinden. 

 

 

 

Samstag, 15. Mai 2021

 

Kein  Kommentar 

„Kein Kommentar“, das ist das Einzige, was die wartenden Journalisten und Reporter dem Politiker, der vorzeitig die Nachsitzung verlässt, entlocken können. Dafür haben sie nun seit Stunden vor dem Sitzungsgebäude die Stative mit ihren Kameras mit den überdimensionalen Teleobjektiven aufgebaut. Als die Tür sich endlich einmal öffnet, kommt Bewegung und Unruhe auf. Aufgeregt und hektisch werden nun gefühlt hundert Mikrophone in die Höhe gehalten, um eine sensationelle Aussage des Politikers aufzuschnappen. Jede verräterische Regung in seinem Gesicht wird heran gezoomt und akribisch im Bild festgehalten. Er aber drängt sich durch die Meute, wie er sie schon oft erlebt hat, und er sagt nur ganz lapidar: „Kein Kommentar“.

Wozu auch, fragt sich der geübte Fernsehzuschauer, der solche Szenen ja schon oft auf dem Bildschirm gesehen hat und zur Genüge kennt. Immer wieder das gleiche Spiel und ein neuer Versuch. Jeder weiß, dass die Verhandlungen noch längst nicht abgeschlossen sind und sich noch Stunden hinziehen können. Um viele Details muss noch gerungen werden, bis es zu einem Ergebnis kommt. Darum, kein Kommentar!

Das aber will man nicht einfach abwarten. Und schon tritt in der nächsten Nachrichtensendung die Kommentatorin in gewohnter, allwissender Weise vor die Kamera und gib ihren Kommentar ab. Aber auch das kennt man schon, ein ständig wiederkehrendes Ritual. Es gibt noch gar nichts, was es zu kommentieren gäbe, aber sie kommentiert auch das. „Es sind schwierige Gespräche, die Fronten haben sich verhärtet, alle Seiten müssen ihr Gesicht wahren und dürfen ihre Wähler und die Lobbyisten nicht verunsichern.  Doch so viel steht jetzt schon fest, es wird wieder ein Ergebnis sein, dass nach unserer Meinung keinesfalls befriedigend ausfallen wird. Soweit der heutige Kommentar. Ich gebe zurück zum Sender.“

Ja, soweit der äußerst erhellende Kommentar. Da möchte man doch glatt sagen: „Bitte, keine Kommentare, jedenfalls nicht solche.“ Oder wie es Martin Luther, der hier wieder einmal als Zitatengeber gut ist, es ausgedrückt haben soll: „Kümmere dich nicht um ungelegte Eier“. Aber gerade darum scheint es in der heutigen, medialen Welt und in den sogenannten sozialen Medien hauptsächlich zu gehen. Da werden auch schon mal Ergebnisse kommentiert, die es noch gar nicht gibt. Und wenn es mal an „News“ mangelt, dann bleiben ja immer noch die „ungelegten Eier“ und die alternativen Fakten. Wer solche Kommentare hört oder liest, der braucht wirklich starke Nerven, denn jedes Ereignis oder auch Nichtereignis wird sehr subjektiv und kontrovers kommentiert.

In den Kommentarspalten bei Facebook und Co. scheint es nur weiß oder schwarz, links oder rechts zu geben. Und jede Seite kämpft verbissen und immer häufiger unfair und bösartig für die eigene Sichtweise, die natürlich die einzig richtige und wahre ist. Diesem Gemetzel von Pro und Contra fallen da zuerst die Orthographie und die Grammatik zum Opfer. Dem folgen zugleich die Wahrheit, der Anstand und die Würde des Anderen. Gnadenlos wird polemisiert, verurteilt, verunglimpft, beleidig und hasserfüllt ganz offen gedroht. Was da an, gelinde gesagt, Unsinn und Unrat in den Kommentaren zu lesen ist, wenn man es denn überhaupt noch lesen kann, was oft nur schwer möglich ist, das alles würde sicher ganze Mülldeponien füllen.

Kommentare aber sollen erhellen, ergänzen und so zum besseren Verständnis beitragen. Kommentatoren, die mit ihrer eigenen, vorgefassten Meinung oder der einer bestimmten Gruppierung, ihre Kommentare abgeben und sie auch noch als objektive Wahrheit verkaufen, die sollte man sich sparen. Die braucht kein Mensch. Sie dienen nämlich nicht einem besseren Verständnis, sondern sie polarisieren und tragen nicht zur Verständigung unter den Menschen bei. Da kann ich nur sagen: „Bitte, kein Kommentar!“

Donnerstag, 18. Februar 2021

Winter in der Stadt

Es war wie ein Traum in Weiß. Die Flocken fielen leise Stunde um Stunde vom grauen Himmel aus den dicken Wolken. Der Schnee deckte schon bald alle Straßen und Plätze mit einer weißen Schicht zu. Alle Ecken und Kanten bekamen mit einem mal weiche Konturen. Die Straßenlaternen hatten plötzlich Mützen aus Schnee. Die Autos schienen in den Straßen unter einer dicken Decke zu schlafen. Alles wirkte verändert, ja fast wie verzaubert. Winterzauber zwischen grauen und beschmierten Häuserfronten. Die Stadt war einmal zur Ruhe gekommen.

Beim Anblick der weißen Pracht hellten sich sogar die Gesichter der Menschen auf. Für kurze Zeit erschien alles von einem Augenblick zum andern unberührt und von einer zarten aber auch verletzlichen Schönheit. Doch wie gesagt, nur für eine kurze Zeit, denn wie alles „Wunderbare“ waren auch diese ersten Augenblicke nur sehr flüchtig.

Schon bald brach sich der Realismus Bahn. „Wie komme ich morgen zur Arbeit? Fahren die Bahnen und Busse? Was ist, wenn mein Termin platzt?“ Schon war aller Zauber dahin. Die ersten „Schneeschaufler“ begannen, sich noch in der Nacht durch das „Weiß“ zu arbeiten. Andere durchpflügten mit durchdrehenden Rädern ihrer Autos die unberührte Schneedecke auf den Straßen und hinterließen tiefe Spuren und Rillen. Der Traum in Weiß zerplatzte in den nachfolgenden Stunden immer deutlicher. Im Alltag ist wenig Platz zum Träumen und schon gar nicht für Wunder, auch nicht für die in der Natur.

Und es dauerte nicht lange, da zeigte sich schon wieder der Schmutz der Straßen, den der Schnee so gnädig eine Weile verdeckt hatte. Die „Salzstreuer“ sorgten für aufgeweichten Schneematch auf den Wegen vor ihren Häusern. Andere kümmerte das wenig. Alle rutschten und schlitterten beim Laufen und hatten Mühe, nicht zu fallen. Die an den Rändern der Wege aufgehäuften Schneeberge wurden schon bald alle paar Meter von gelben „Pinkelflecken“ der ungezählten Stadthunde verunziert. Man hält es nicht für möglich, wie viele es gib. Auch so manch andere Hinterlassenschaften kamen schnell dazu. Sagt man nicht: „Die Sonne bringet es an den Tag?“ Jetzt war es der Schnee, auf dem sich noch deutlicher als sonst, diese Spuren abzeichneten. Allzu schnell verfärbte  sich das strahlende Weiß mehr und mehr wieder in ein schmutziges Grau. Mit dem Schmutz schwand auch sehr schnell das Strahlen auf den Gesichtern der stets geschäftigen Menschen. Es war, als hätte es das nie gegeben. Einzig die Kinder freuten sich und nutzten jeden kleinen Hügel zum Rodeln und Rutschen. Sie hatten jedenfalls ihren Spaß. Ob ihre Eltern auch? Das bleibt zumindest die Frage.

Als der Alltag der Mensch in der Stadt wieder funktionierte, der Verkehr wieder rollte, da war es endgültig mit der Idylle des Winters vorbei. Alles war wie gehabt. Nun zeigten sich auch wieder die schmutzigen und kaputten Gehwege, flankiert von überquellenden Papierkörben, Mülltonnen und alten und neuen Unrat. In den Schmelzwasserpfützen schwammen ölige Lachen und schimmerten in der Sonne. Die verbliebenen Schneereste schmolzen unter einer Schmutzschicht allmählich dahin. Es war alles Schnee von gestern.  Und schon ist alles wieder wie immer. Alles in gewohnter Ordnung oder  Unordnung?

Das Außergewöhnliche, der Traum in Weiß, der Zauber des Winters, ist allzu schnell dem  Gewöhnlichen gewichen und das ist eben oft recht Grau.