Wer ist eigentlich behindert?
Es war an einem Sonntagnachmittag,
das weiß ich noch ganz genau, als ich bemerkte, dass ich behindert bin! Ich war
damals ein junger Mann von 23 Jahren. Die Erfahrung war recht schmerzlich. Doch
bitte falsches kein Mitleid. Das ist schon der erste Fehler in der Begegnung
mit behinderten Menschen. Ja, es sind zu allererst Menschen, zwar mit
unterschiedlichen körperlichen oder geistigen Behinderungen, aber es sind
Menschen.
Meine so plötzlich
aufgetretene Behinderung war jedoch von ganz anderer Art, denn körperlich und geistig
fehlte mir nichts. Das Ganze fing damit an, dass wir als Studenten an manchen
Sonntagen in die „Pfeifferschen Stiftungen“ in Magdeburg gingen. Wir hatten uns
freiwillig zu einem sozialen Dienst angeboten. So betraten wir das Gebäude, in
dem behinderten Kinder untergebracht waren. Schon der Geruch verschlug mir fast
den Atem und mein Magen fing an, sich leicht zu drehen. Doch was sollte es, wir
wollten ja helfen, Nöte lindern und den Kindern etwas Freude schenken. Also
hieß es durchatmen und durch. Man gewöhnt sich schließlich fast an alles! Oder?
Die körperlich und geistig
behinderten Kinder freuten sich, als sie uns sahen und taten dies mit oft
unartikulierten Lauten kund. Mit dem Personal, das gerade am Sonntag immer
knapp war, wurde alles abgestimmt. Die Schwestern waren froh, wenn sich jemand zusätzlich um die
Kinder kümmerte. Bei schönem Wetter gingen wir mit ihnen im Park spazieren oder schoben die Rollstühle
hinaus. Eltern und Verwandte ließen sich nicht leider nicht oft sehen.
Alles war bereit, nun sollte
es losgehen. Doch heute musste ich zuerst noch dem etwa zehnjährigen Jungen
beim Anziehen seiner Jacke helfen. Und da geschah es. Ich merkte, dass ich der
Behinderte war. Wie dumm muss ich mich wohl angestellt haben, ihm seine Armen
in die Ärmel zu stecken. Besser muss ich wohl sagen, seine kleinen Hände, die
sich direkt an seinen Schultern befanden, in die viel zu langen Ärmel der Jacke
zu stecken. Der Junge war zwar schwer körperlich behindert, aber geistig völlig
normal und ein helles Köpfchen. Mir läuft es heute noch kalt den Rücken herunter,
wenn ich daran denke, was er mir sagte: „Stell dich nicht so dumm an, schau so
musst du das machen. Das ist doch nicht so schwer.“
Doch ich war in diesem
Augenblick der „Behinderte“. Ich kam mit dieser Situation einfach nicht klar.
Später habe ich noch viele Menschen erlebt, die mit ihren Behinderungen leben
und klar kommen mussten. Auch wenn es eine harte Schule war, so habe ich im
Laufe der Jahre eine große Hochachtung vor allen Menschen mit einem Handicap
gewonnen und ganz besonders vor denen, die sie pflegen und denen es gelingt,
sie als Partner mit ihren Schwachpunkten aber auch mit ihren ganz speziellen
Stärken zu sehen.
Ja, wir selbst sind häufig die
„Behinderten“, die wir uns für stark, gesund und so normal halten. Wir betrachten alles,
was von unserer Norm abweicht, leicht für „unnormal“. Das führt dazu, dass wir nicht
natürlich mit Menschen umgehen, die etwas anders sind. In dieser Situation
neigen wir leicht zu einem übertrieben, weinerlichen Mitleid oder wir wenden
uns ab, um sie nicht sehen zu müssen. Nach
dem Motto, was ich nicht sehe, das gibt es nicht. Dieses für uns „fremdartige“
Aussehen und Veralten hindert uns, normal zu reagieren. Das Anderssein dieser
Menschen verunsichert, ja es kann sogar ängstigen und Aggressionen auslösen. Es
behindert und verhindert einen
selbstverständlichen, fairen und guten
Umgang aller Menschen miteinander.
Meine so spontan
aufgetretene „Behinderung“ an jenem Sonntag, war eine tiefe Erfahrung und hat
mir letztlich gezeigt und deutlich gemacht, dass meine Vorstellung von
Normalität nicht die einzige ist und schon gar nicht die richtige sein muss.