„Die Erinnerung ist ein Fenster“
und der Dichter Reiner
Maria Rilke fährt in seinem Gedicht fort, „durch das ich Dich sehen kann, wann
immer ich will.“
Das ist doch ein schöner Gedanke und auch sehr tröstlich.
Dieses Wort hat sicher schon so manchem Unglücklichen, der einen lieben
Menschen verloren hat, in seiner Situation Trost und neuen Lebensmut geschenkt.
Und weil diese Worte von einem bekannten Dichter stammen, werden sie gern als
Zitat auf Trauerkarten oder bei Beisetzungen verwendet. Da geht es ja gerade um
Verlust und Leere, die durch den Tod eines anderen Menschen entstanden sind.
Der Verstorbene ist nun den Augen der Hinterbliebenen entzogen. Aber mit ihren inneren
Augen können sie gleichsam durch das "Fenster der Erinnerung" schauen und werden
ihn dort sehen. Oder, wie es Rilke so schön gesagt hat: „durch das ich Dich
sehen kann, wann immer ich will.“
Erinnerung ist also etwas,
was nicht von außen kommt, sondern aus dem Inneren eines jeden Einzelnen
selbst. Der Mensch kann sich bewusst erinnern und durch das Fenster nach innen
blicken. Was er dort sieht, ist demzufolge etwas sehr Subjektives, ganz
Persönliches, was nur er sieht. Woran er sich im Rückblick aufrichtet oder was
ihn betroffen macht. Nicht alle Erinnerungen sind auch gleich gute Erinnerungen.
Manch einer möchte sich deshalb
lieber nicht erinnern, jedenfalls nicht an alles. Negatives wird deshalb oft in
die letzte, dunkelste Ecke verbannt. Damit ist die naive Vorstellung verbunden,
was ich nicht sehe, gibt es nicht. Irrtum. Denn irgendwann kommen diese
Erinnerungen ganz von selbst an die Oberfläche. Das kann dann zu einer großen Belastung werden. Zudem kommen sie nicht nur, „wann immer ich will“. Der Blick in
das eigene Innere lässt viele, schöne und tröstliche Bilder wach werden, die den
Menschen zutiefst erfreuen und aufbauen. Diese möchte er am liebsten für immer
festhalten. „Verweile doch, du bist so schön“, wie es in Goethes Faust heißt.
Erinnerung führt den
Menschen zurück in sein Erlebtes und zeigt ihm Bilder aus der Vergangenheit.
Dazu gehören Helles und Dunkles. Erst zusammen genommen ergibt sich ein Ganzes. Genau
wie der Tag helle und dunkle Stunden kennt und die eine Münze eben zwei Seiten
hat, so gehören die unterschiedlichen Bilder der Erinnerung auch zusammen.
Leben kann nur ganzheitlich betrachtet werden und wird nur so, wenigsten etwas,
verständlicher. Wer sich aber einseitig in
seinen Erinnerungen verliert, und seien sie noch so schön und tröstlich, der
verliert damit auch den Blick für das Leben im Hier und Heute. Das aber ist der
Ort, an dem Leben sich ereignet.
Wenn Rilke in seinem
Gedicht von einem Fenster spricht, dann sollte bedacht werden, auch Fenster haben zwei Seiten. Ein Außen und
ein Innen. Man kann also durch ein Fenster in das Innere eines Hauses, eines
Zimmers, blicken, aber genauso kann der Blick durch ein Fenster hinaus in die
Landschaft, sprich das reale Leben gehen. Dieser Blick zeigt dann nicht nur das
Vergangene, ob schön oder traurig, nein er zeigt das Gegenwärtige. Da gibt es immer
lebendige Geschehnisse, Bewegungen und neue Herausforderungen zu erkennen. Jeder ist geradezu angesprochen, mitzuwirken, sich einzubringen. Keiner bleibt doch ein Unbeteiligter, ob er es will
oder nicht.
Das, was der Mensch jetzt beim
Blick aus dem Fenster nach draußen mit seinen Augen sieht, das fordert ihn zum
Handeln heraus. Und keiner sollte sich täuschen, auch das Nichthandeln schafft
oder begünstigt bestimmte Tatsachen. Genau an dieser Stelle kommen nun wieder seine ganz
persönlichen Erinnerungen in den Blick. Aus früheren Fehlern und negativen
Entscheidungen kann jetzt der Mensch die richtigen Schlüsse
ziehen und diese Fehler in der Gegenwart nach Möglichkeit unterlassen. Das Schöne und Gute aber, woran er
sich gern erinnert, das wird ihm sicher Motivation
sein, es zu verstärken und auszuweiten.
Spätestens bei diesen Überlegungen tut
sich nun bildlich gesprochen noch ein anderes Fenster auf, durch das der Mensch sehen
kann, wann immer er will. Es ist das „Fenster der Hoffnung“. Der Blick durch dieses Fenster geht
weit hinaus, sozusagen über den Horizont, der, wie Reiner Maria Rilke im gleichen
Gedicht sagt, zwar die Grenze unseres Sehens ist, aber nicht die Grenze des Seins. Wer es schafft, aus diesem
Fenster zu blicken, findet seinen Halt bei allen
Unsicherheiten und Unwägbarkeiten des Lebens. Aber das ist eine ganz andere
Geschichte. Oder auch nicht?
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