Mittwoch, 2. September 2020

Von Vorder- und Rückseiten

 


 Von Vorder- und Rückseiten

Ich gehe gern auf Friedhöfe. Es sind ruhige und friedliche Ort, wie es der Name schon sagt. Aber es sind für mich auch sehr lebendige Orte. Sie sagen so viel über das Leben der Menschen in Vergangenheit und Gegenwart aus. Die alten Grabmale erzählen von den Verstorben und ihrem Leben. Da gibt es große und aufwendig gestaltete Grabsteine mit den Namen der Verstorbenen und all ihren Titeln und Verdiensten. Heutige Gräber haben eher schlichte Grabsteine oder gar keine mehr. Die Zeiten ändern sich halt. 

Gräber und die Art und Weise, wie zu den verschiedenen Zeiten Tote bestattet wurden, gaben schon immer Auskunft über die Verstorben, aber auch über die Einstellungen der Hinterblieben zu Sterben und Tod. Alte Grabanlagen waren quasi die ersten, nicht schriftlichen Zeugnisse der Menschheit. Egal, ob wir dabei an die Pyramiden denken oder an germanische Hügelgräber. Sie alle sind noch heute für die Archäologen und Historiker eine wahre Fundgrube, denn sie geben präzise Auskunft über die darin bestatteten Toten und ihren Rang im Leben. Zugleich sind sie beredte Zeugnisse der Vorstellungswelt der Hinterbliebenen.

Doch eigentlich wollte ich hier keine Abhandlung über Bestattungskultur in Geschichte und Gegenwart halten, sondern eher einen Blick auf die Rückseiten der Grabsteine werfen und auf das, was es ungewollt zum Ausdruck bringt, wie es mein heutiges  Foto vielleicht schon zeigt.

Solche oder ähnliche Ansichten finden sich nämlich auch an anderen Ecken und Enden im alltäglichen Leben der Menschen. Da gibt es doch auch Vorder- und Rückseiten. Auf letztere aber scheinen die meisten in ihrem Leben nicht allzu großen Wert zu legen. Hauptsache die Vorderseite ist chic und hält den Blicken der Betrachter stand. Wer schaut schon hinter einen Schrank auf dessen Rückwand? Hauptsache die Vorderfront ist glänzend poliert. Der Blick des Betrachters gilt auf dem Friedhof doch auch zuerst dem schön bepflanzten Grab und dem kunstvoll gestalteten Grabstein.

Aber mal ehrlich, haben wir nicht alle ähnliche Ecken und Verstecke für irgendwelche Dinge in unserem Alltag? In jedem Haus und Garten gibt es sie gewiss. Wohin auch mit all dem, was man täglich so benötigt? Dazu noch der ganze Krempel, der immer mehr wird? Von manchen Dingen mag man sich nicht einfach trennen und so verschwindet es dann in irgendwelchen dunklen Ecken, Schubladen oder hinter einem Vorhang. Ist das wirklich eine Lösung?

Vorder- und Rückseiten, außen und innen, Sichtbares und Verborgenes bestimmen auch andere Bereiche unseres Leben. Jeder von uns hat sicher seine unaufgeräumten Bereiche, sozusagen eine Rückseite in seinem Inneren, hinter der sich so manches verbergen lässt. Davon tritt im normalen Umgang mit anderen Menschen meistens gar nichts zu Tage. Aber es gibt Situationen im Leben, da trifft uns selbst die Erkenntnis, dass wir zum Beispiel gar nicht so tolerant sind, wie wir immer meinten. Nämlich dann, wenn  uns die anderen mit ihren unsinnigen Vorstellungen und Meinungen wieder einmal nerven. Oder wir spüren plötzlich, dass es mit unserer Ehrlichkeit nicht allzu weit her ist. Immer in den Momenten, wenn es um unseren eigenen Vorteil geht. Dann ist schon mal eine sogenannte "Notlüge" erlaubt. Wir wären ja schön dumm, denn andere machen das doch auch.  So cool, wie wir meinen sind wir auch nicht. Wir vergleichen uns immer weider mit anderen, sind dann neidisch und missgünstig. Nach außen würden wir das aber niemals zugeben. Auch mit der Freundlichkeit kann es schlagartig vorbei sein, wenn wir uns angegriffen oder bloßgestellt fühlen.  Da ist unser Lächeln ganz schnell verschwunden und ein aggressiven Ton tritt an seine Stelle. Fehler und Schwächen verstecken wir gern hinter einer souveränen Fassade. Wenn Menschen die Fassung verlieren, dann wird schnell sichtbar, das sie auch eine andere Seite haben. Deshalb ist es gut, wenn wir selbst merken, dass  nicht nur das Sichtbare zu uns und unserem Leben gehört, sondern eben auch das Unsichtbare, das Verborgene in uns. Dieses Verborgene beeinflusst unser Denken und Handeln nämlich viel mehr, als wir selbst meinen.

Scheuen vielleicht wir Menschen oft einen ehrlichen Blick hinter die schön polierte Vorderseite? Sicher, es könnte sie nämlich zutiefst erschüttern und weitere Fragen aufwerfen. Wir Menschen sind bekanntlich Meister im Beschönigen und im Verdrängen: "Was ich nicht sehe, das gibt es nicht". Wir  müssen uns also häufig eingestehen, dass wir  nicht die sind, die wir gerne wären oder die wir vorgeben zu sein. Diese Einsicht kann uns zwar stark verunsichern, ist aber mitunter der erste Schritt zur Besserung. Genau diese verborgenen Seiten in uns werden immer dann sichtbar, wenn es um unsere Person, unser Ich geht, wenn es also sehr persönlich für uns wird. Wo wir uns angegriffen oder zurückgesetzt fühlen oder angefeindet und betrogen werden. Dann tauchen aus den untersten Schubladen Ver-haltensweisen auf, die uns im Nachgang selbst erschrecken. „Das hätte ich von mir nicht gedacht, dass ich so über andere denke und schlecht rede, dass ich so lieblos sein kann“, stellen wir danach ganz betroffen und zerknirscht fest. Zumeist aber achten wir jedoch vorzugsweise auf unsere Vorderseite und verstecken gern, was sich auf der Rückseite unseres Ich so alles verbirgt. Und darin sind wir auch meistens sehr erfolgreich, doch eben nicht immer und das ist gut so. 

Nicht die Erfolge zeigen, was und wie ein Mensch wirklich ist, sondern seine Niederlagen und Rückschläge und die Art und Weise, wie er damit umzugehen vermag, sie legen sowohl seine  Schwächen offen und  machen zugleich seine Stärken sichtbar. 

 

 

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