Eine
Begegnung im Herbst
Auf
meinem Weg durch die Stadt an einem schönen Herbsttag, kam plötzlich eine
ältere Dame mit ihrem Rollator auf mit zu. „Sind Sie ein Biologe?“, fragte Sie
mich unvermittelt. Überrascht meinte ich: „Sehe ich denn so aus?“ Aber wie
sieht eigentlich ein Biologe aus? Nun gut, darum ging es ihr wohl gar nicht. „Ich
wundere mich“, fuhr sie fort, „das sind doch alles Lindenbäume,
warum sind die Blätter des einen Baumes schon gelb und die des anderen noch
grün?“ Was sollte ich dazu sagen? Na ja, das hat etwas mit dem Chlorophyll, dem
grünen Farbstoff zu tun. Das wusste sie selbst. Und ich spürte, dass etwas
anderes hinter ihrer Frage steckte, als sie traurig, wie mir schien, sagte,:
„Alle, die ich fragen könnte, sind längst tot.“
War
das also ihr eigentliches Problem, ihre offene Frage? Warum die einen früher und andere später gehen
müssen? Mir wurde klar, dass es ihr nicht um die unterschiedliche
Laubfärbung der Linden ging. Darum ließ ich meine Erklärungsversuche sein. Die
Frage hinter ihrer Frage war eine viel tiefere und gleichzeitig der Wunsch, mit
jemandem zu reden. an diesem milden Herbsttag in der geschäftigen Stadt. In der sie einsam war im Herbst ihres Lebens.
Es
ging ihr um keine Erklärung eines Biologen oder sonst eines anderen
Wissenschaftlers. Nein. Die Begegnung mit jemandem, der bei ihr stehen blieb,
genügte ihr vollkommen. Kein Dozieren und Erklären. Nur etwas Zeit. Wir
schauten noch eine ganze Weile gemeinsam auf die unterschiedliche Färbung der
Blätter und freuten uns an der Farbenpracht des Herbstes. Wie einfach und schön
kann doch das Leben sein, auch wenn es nur für einige Augenblicke ist.
Das zeigt wieder einmal, nicht alles kann und muss erklärt und analysiert werden. Nicht auf jede Frage gibt es eine angemessene Antwort. Unsere menschliche Erkenntnis beschränkt sich vorwiegend auf das Messbare und Wägbare. Das ist aber längst nicht alles. Es ist nur die Oberfläche der Wirklichkeit. Darunter gibt es noch mehr und viel Wichtigeres. Zum Abschied kam mir dann noch ein Gedanke, den ich ihr sagte: „Schauen Sie, wenn schon die Bäume so unterschiedlich sind, sind wir Menschen dann nicht noch viel unterschiedlicher? Jeder aber ist einmalig und wertvoll.“ Sie lächelte und ging ihren Weg allein weiter.
Mich
ließ die Begegnung mit der alten Dame nachdenklich zurück.
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