Sonntag, 19. Oktober 2025


Eine Begegnung im Herbst

Auf meinem Weg durch die Stadt an einem schönen Herbsttag, kam plötzlich eine ältere Dame mit ihrem Rollator auf mit zu. „Sind Sie ein Biologe?“, fragte Sie mich unvermittelt. Überrascht meinte ich: „Sehe ich denn so aus?“ Aber wie sieht eigentlich ein Biologe aus? Nun gut, darum ging es ihr wohl gar nicht. „Ich wundere mich“, fuhr sie fort, „das sind doch alles Lindenbäume, warum sind die Blätter des einen Baumes schon gelb und die des anderen noch grün?“ Was sollte ich dazu sagen? Na ja, das hat etwas mit dem Chlorophyll, dem grünen Farbstoff zu tun. Das wusste sie selbst. Und ich spürte, dass  etwas anderes hinter ihrer Frage steckte, als sie traurig, wie mir schien, sagte,: „Alle, die ich fragen könnte, sind längst tot.“

War das also ihr eigentliches Problem, ihre offene Frage? Warum die einen früher und andere später gehen müssen? Mir wurde  klar, dass es ihr nicht um die unterschiedliche Laubfärbung der Linden ging. Darum ließ ich meine Erklärungsversuche sein. Die Frage hinter ihrer Frage war eine viel tiefere und gleichzeitig der Wunsch, mit jemandem zu reden. an diesem milden Herbsttag in der geschäftigen Stadt. In der sie einsam war im Herbst ihres Lebens.

Es ging ihr um keine Erklärung eines Biologen oder sonst eines anderen Wissenschaftlers. Nein. Die Begegnung mit jemandem, der bei ihr stehen blieb, genügte ihr vollkommen. Kein Dozieren und Erklären. Nur etwas Zeit. Wir schauten noch eine ganze Weile gemeinsam auf die unterschiedliche Färbung der Blätter und freuten uns an der Farbenpracht des Herbstes. Wie einfach und schön kann doch das Leben sein, auch wenn es nur für einige Augenblicke ist.

Das zeigt wieder einmal, nicht alles kann und muss erklärt und analysiert werden. Nicht auf jede Frage gibt es eine angemessene Antwort. Unsere menschliche Erkenntnis beschränkt sich  vorwiegend auf das Messbare und Wägbare. Das ist aber längst nicht alles. Es ist nur die Oberfläche der Wirklichkeit. Darunter gibt es noch  mehr und  viel Wichtigeres. Zum Abschied kam mir dann noch ein Gedanke, den ich ihr sagte: „Schauen Sie, wenn schon die Bäume so unterschiedlich sind, sind wir Menschen dann nicht noch viel unterschiedlicher? Jeder aber ist  einmalig und wertvoll.“ Sie lächelte und ging ihren Weg allein weiter.

Mich ließ die Begegnung mit der alten Dame nachdenklich zurück.

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