Fallobst - was unten liegt, ist nichts mehr wert
Was auf der Erde liegt ist schmutzig
und nichts mehr wert. Was runterfällt, bleibt liegen. Salopp gesagt: „Tritt sich fest“. Sich danach zu bücken, ist nicht der Mühe wert. Herunter gefallene
Früchte bleiben liegen und werden auf den Wegen zertreten oder auf der Fahrbahn von den Autoreifen zerquetscht.
Wie sich doch
die Zeiten und die Ein-stellungen ändern? Aus meiner Kindheit kenne ich
es noch, dass wir zu den Obst- wiesen gingen und die herunter gefallenen Äpfel
aufgesucht haben. Ebenso lasen wir diese unter den Apfelbäumen am Straßen-rand
auf. Die Angst vor den schädlichen Autoabgasen war in diesen Jahren noch nicht
so groß, da der Straßenverkehr im Osten recht übersichtlich war. Nun, so ganz
lecker wirkten die „Falläpfel“ nun wirklich
nicht. Oft waren sie madig und hatten faulige Flecken. Aber sie waren
reif und saftig. Und das war ja auch der Grund dafür, dass wir sie körbeweise
aufsammelten. Es ging doch gerade um den süßen Saft, natürlich hundert Prozent
Frucht.
In unserem Dorf gab es eine
kleine Mosterei. Dorthin wurden die Äpfel und andere Früchte gebracht, um
daraus den köstlichen Most herstellen zu lassen. Zu den Abgabeterminen bildeten
sich auf der Dorfstraße regelrechte
Schlangen parkender Fahrzeuge, beladen mit Eimern, Körben und Säcken voller
Obst und dazu auch jede Menge leere Flaschen, in die später die fertigen
Obstsäfte abgefüllt wurden.
Es stimmt also nicht immer:
„Was unten liegt, taugt nichts.“ Vielleicht ist das auch nur so eine Ausrede für
alle, die zu faul sind, sich zu bücken. Schließlich erfinden wir ja allzu häufig zur eigenen
Entschuldigung die kreativsten Ausreden. Diese werden dann schnell zu handfesten Vorurteilen
und zu gedankenlos übernommenen Klischees. „Was am Boden liegt, taugt zu nichts.“
Und das gilt dann auch für Menschen, die gefallen sind und buchstäblich am
Boden liegen. Sie sind halt die Verlierer. Es ist ihr Fehler, dass sie dort
gelandet sind. „Jeder ist schließlich seines Glückes Schmied.“ Sie ähneln den
Falläpfeln, angeschlagen, dreckig und faul. Für die Gesellschaft wertlos.
Wirklich?
Ist das nicht manchmal auch unsere Sicht, wenn
wir von solchen Menschen hören oder ihnen begegnen? Ihre Schicksale
interessieren uns wenig, wir wenden lieber den Blick ab und gehen weiter. Wir haben schließlich unsere eigenen Sorgen. Die Versager, die von der
Natur Benachteiligten, die wenig Gebildeten haben kaum noch Chancen. Die Nachfrage nach "Fallobst" ist eben sehr gering. Es gut aufzubereiten, ist mühsam und viel zu teuer. So
vergammelt das Obst auf dem Boden und bestätigt wieder einmal die
vorherrschende Meinung: „Was am Boden liegt, taugt zu nichts mehr, ist
wertlos.“ Welch eine Verschwendung von Obst und anderen Lebensmitteln, die in
unserem Lande, in dieser Wegwerfgesellschaft, einfach entsorgt werden und vergammeln.
Welch ungeheures Versagen
an all denjenigen Menschen in unserem Land, die in den Augen anderer
(vielleicht auch in unseren) zu nichts mehr taugen, die am Boden liegen, die wir gern als die "Sozialschwachen" bezeichnen und sie mit Hartz-4 abspeisen. Man hat sie abgeschrieben und fallen gelassen. Zu
nichts mehr zu gebrauchen, Sozialfall.
Hat nicht jeder Mensch
eine zweite oder auch dritte Chance
verdient, wieder auf die Beine zu
kommen? Dazu muss man sich natürlich zu ihnen herabbücken, um sie aufzurichten
und sie wieder auf die Beine zu stellen. Das ist zwar mühsam und auch nicht immer
von Erfolg gekrönt, jedenfalls nicht nach unseren Maßstäben. Aber es wird
immer wichtiger. Diese Verschwendung
können wir uns eigentlich nicht leisten.
Wenn dennoch unsere
Gesellschaft es weiterhin zulässt, dass große Teile der Bevölkerung an die Ränder gedrängt, abgeschoben und
abgeschrieben werden, weil sie nicht den Standards der
Leistungsgesellschaft entsprechen, dann ist diese so überhebliche Gesellschaft
selbst „sozialschwach“, ja unmenschlich und letztendlich der eigentliche
Verlierer.
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