Das Klassentreffen
„Wie doch die Zeit
vergangen ist“, das ist wohl der häufigste Satz, der bei einem Klassentreffen
zu hören ist. Beim Blick auf das Foto von der Einschulung hat mancher schon
Schwierigkeiten, sich selbst noch zu erkennen. Um wie viel mehr, wenn man
einstige Mitschüler nach der Schulentlassung zum ersten Mal nach 50 Jahren
wieder sieht.
Da steht dann eine Gruppe
völlig fremder Menschen auf dem Hof der ehemaligen Schule. Bin ich hier
wirklich richtig? Natürlich, das Klassentreffen soll doch heute hier
stattfinden. Verunsichert gehe ich auf die Gruppe älterer Leute zu. Nur nichts
anmerken lassen, ist jetzt die Devise. Und es klappt. Andere sind scheinbar
nicht so verunsichert wie ich und kommen gleich auf mich zu. Habe ich mich etwa
nicht so sehr veränder? Jedenfalls fliegt mir gleich eine ehemalige Schülerin
um den Hals und begrüßt mich herzlich. „Ach wie schön, sich nach so langer Zeit
mal wiederzusehen“, stammele ich noch etwas benommen. Wer das eigentlich war, weiß
ich immer noch nicht.
Alles klärt sich später
sicher noch auf. Dazu sind ja solche Klassentreffen da. Wen ich aber zuerst
erkenne, ist ein alter Lehrer. Na gut, alt war er für uns Schüler damals schon.
Jetzt ist er 80 Jahre und wir sind auch alle weit in den Sechzigern. Wie doch
die Zeit vergeht! Und so manches ist auch an uns vergangen. Bei den männlichen
Mitschülern sind die Haare erheblich weniger geworden und die Stirn geht nun
fast bis zum Nacken. Die Gesichter sind markanter geworden. Gezeichnet von
Lachfalten oder von den Sorgen der letzten Jahre. Alles gestandene Frauen und
Männer.
An keinem ist das Leben
spurlos vorüber gegangen. Davon ist dann auch in den nächsten Stunden des
Klassentreffens viel die Rede. Nach einer gewissen Zeit kann sogar ich die
einzelnen Mitschüler wieder so einigermaßen den alten Namen zuordnen. Und ich
staune immer wieder neu, was sie von mir und der Schulzeit noch alles zu berichten wissen. Vieles davon halte
ich einfach für eine ganz normale Legendenbildung nach so langer Zeit. Bei
diesem Austausch von alten Schulgeschichten verging auch an diesem Tag die Zeit
wieder wie im Flug.
Klassentreffen geben einem
die Gelegenheit, Einblicke in das Leben der ehemaligen Mitschüler zu bekommen,
mit denen man in seiner Kindheit über Jahre die „Schulbank gedrückt“ hat. Hier
verknüpft sich die Frage nach der vergangenen Zeit, mit der Frage, was hat
jeder damit gemacht oder was hat sie mit ihm gemacht? Die äußerlichen
Veränderungen der einzelnen im Vergleich zu den alten Klassenbildern sind doch
unverkennbar. Aber es ist noch so unendlich viel mehr geschehen. Aus den
fröhlichen Kindern sind reife Erwachsene geworden, die schon wieder Kinder und
Enkelkinder haben. Manche Ehe ist gescheitert. Der nächste musste den Verlust
eines Partners verkraften oder gar den tragischen Tod eines Kindes. Andere sind
selbst durch Krankheiten schwer gezeichnet und konnten nicht dabei sein. Und
eine ganze Reihe der ehemaligen Mitschüler ist schon im Laufe der vergangenen
Jahre verstorben. Auch um sie ging es in
den Gesprächen an diesem Tag immer wieder.
So ein Klassentreffen ist
ein regelrechtes Fest der Erinnerung. Aber auch ein Anlass zur Selbstreflexion.
Keiner von den ABC-Schützen, die auf dem Bild von der Einschulung so
erwartungsvoll in die Kamera schauten, konnte wissen, wo sie oder er nach 60
Jahren stehen werden. Alle haben sich auf den Weg in die Zukunft begeben. Jeder
ist dabei seinen eigenen Weg gegangen, mit allen Höhen und Tiefen. Keiner hatte
dabei einen „goldenen Weg“ und stets einen heiteren Himmel über sich. Darum ist
alles Schielen auf die vermeintlichen Erfolge und Stärken der anderen einfach
nur müssig. Die Wirklichkeit ist immer eine andere. Und alles hat seine Zeit und
auch seinen Preis.
Klassentreffen lassen uns
das Leben der anderen und das eigene Leben wieder realistischer sehen. Die
Erinnerung wird mit der Realität konfrontiert. Das macht etwas traurig, aber zugleich
auch wieder froh. Mit diesen und anderen Gedanken im Kopf und einem guten
Gefühl im Bauch fahre ich ganz zufrieden zurück nach Hause.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen