Blatt für Blatt oder der Mut zur Lücke
Fast
über Nacht hat der Wind die letzten Blätter von der Linde vor meinem Fenster
geweht. Nur noch weinige davon zeichnen sich schemenhaft gegen den blassgrauen
Himmel ab. Noch vor kurzem bildeten sie einen grünen, dann goldgelben Vorhang
und verbargen die Häuserfront auf der anderen Straßenseite. Das Auge muss sich erst
wieder an diese Kargheit der kahlen Äste an den Bäumen gewöhnen und es tut sich
unendlich schwer, von der Fülle und Farbenpracht der Natur Abschied zu nehmen.
Hierbei
wird mir deutlich, dass wir Menschen meistens erst merken, was das Leben uns alles schenkt,
nämlich dann, wenn es nicht mehr da ist.
Und das ist unendlich viel mehr, als die Blätter der Bäume, denen wir nun
wehmütig nachtrauern. Verluste haben wir wohl schon alle einmal hinnehmen
müssen. Angefangen vom Schlüsselbund bis hin zur Arbeitsstelle. Menschen verlieren
heute so manches. Die Fundbüros sind voll von diesen Dingen. Einiges ist
ersetzbar und wird leichter verschmerzt. Schmerzlich ist es aber in jedem Fall,
wenn etwas verloren geht. Und manches ist eben nicht ersetzbar. Wer einen
Menschen verliert, sei es durch Trennung oder gar Tod, wird diesen Verlust
stets in sich tragen. Solche Verluste graben sich oft tief in den Menschen ein.
Es bleibt in seinem Leben ein Platz leer. Eine Lücke entsteht, die so schnell nicht
geschlossen werden kann oder muss. „Mut zur Lücke“, ist da so ein Wort, das
zumindest bedenkenswert ist. Die Lücke ist eine Leerstelle, die möglichst
schnell wieder geschlossen werden soll. In einer Häuserzeile in der Stadt wirkt
eine Baulücke störend und allzu oft ist sie bald vermüllt. Und wer möchte schon
gerne mit einer Zahnlücke herumlaufen? Defizite in unserem Leben sollen
möglichst schnell beseitigt oder wenigstens kaschiert werden. Das Wort: „Mut zur
Lücke“ ist da nicht einfach ein Trostpflaster, alles so zu belassen, wie es nun
einmal ist, sondern es ist eine
Herausforderung, sich mutig der neuen Situation zu stellen. Da heißt es, den entstandenen Verlust erst einmal
als solchen zu sehen und ihn anzuerkennen. Das ist nun einmal so! Muss es aber so
bleiben? Gibt es nicht ganz neue Perspektiven?
Wenn
ich zum Beispiel jetzt aus meinem Fenster schaue, dann sehe ich zuerst einmal den
kahlen Lindenbaum, aber wenn ich den Blick hebe, kann ich den Himmel über den
Dächern der Häuser auf der anderen Seite sehen. Dieser Ausblick war mir in den
letzten Monaten nicht möglich, das ist neu. Auch ist es spürbar heller an
meinem Schreibtisch geworden. Mehr Licht kommt in mein Zimmer, in mein Leben. Am
Abend erkenne ich, wie sich die Fenster der gegenüber liegenden Wohnungen
erhellen und Licht und Wärme ausstrahlen. Dort leben Menschen und sie können
nun freier auf unser Wohnhaus schauen. Dinge und Menschen können schon mal den
Blick füreinander verstellen, unseren Blick einengen! Durch entstandene Lücken
hindurch kann ich Dinge entdecken, die mir sonst verborgen geblieben wären. So
können auch oft schmerzliche Verluste mein Blickfeld erweitern. Das, was sich wie eine hässliche Lücke
aufgetan hat, schenkt mir nun einen neuen Blick und erweitert den Horizont. Dazu braucht es aber immer
wieder Mut und die Ermutigung durch andere Menschen.
In diesem Blog: „Worte und Wege“ möchte ich Worte suchen,
die bewegen! Wer mir dabei folgen möchte ist herzlich dazu eingeladen. Dietrich
Letzner, Halle-Saale
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