Der Wasserfall
Als ein Sohn der Wüste zum
ersten Mal vor einem Wasserfall stand, konnte er sich daran nicht satt sehen. Mit
staunenden Augen und offenem Mund stand er lange Zeit davor. Als sein Begleiter
ihn drängte, weiterzugehen, sagte er: „Ich möchte noch sehen, wann das Wasser
aufhört zu fließen“. Er konnte es einfach nicht glauben, dass der Wasserfall
nicht abgestellt wird, dass das Wasser immer weiter aus dem Felsen strömt. Für
ihn unbegreiflich, ein Wunder der Natur. So ein Reichtum, so ein Überfluss.
Einfach unfassbar für ihn. Das gab es in seiner kargen Heimat in der Wüste
nicht. Da wurde kein Tropfen Wasser verschwendet, denn jeder war unendlich
kostbar und lebensnotwendig. Wenn man nicht rechtzeitig ein Wasserloch oder eine
kleine unterirdische Quelle fand, konnte das den Tod für Mensch und Tier
bedeuten.
In unseren Breiten gibt es
nicht nur Wasser im Überfluss, sonder vieles andere wird uns in einer
unendlichen Fülle angeboten. Wir werden förmlich mit Waren und Produkten aller
Art überhäuft. Wer aber stets und ständig
in so einer „Überflussgesellschaft“ lebt, der verlernt leicht den wahren
Wert der Dinge zu begreifen und vor allem zu schätzen. Allzu leichtfertig
werden hier die Dinge verschwendet und gering geachtet. Lebensmittel werden im
Müll entsorgt, wenn sie etwa unansehnlich geworden sind. Kleidung landet im
Container, wenn sie nicht mehr der neusten Mode entsprechen. Geht ein Gerät
kaputt, wird es sofort durch ein Neues ersetzt. Kaum jemand macht sich noch die
Mühe, etwas zu reparieren. In einer solchen „Wegwerfgesellschaft“ werden viele
Ressourcen verschwendet und manche Fähigkeiten bleiben ungenutzt.
Der Sohn der Wüste stand
staunend und ehrfürchtig vor dem Wasserfall. Er wäre wohl sehr dankbar, wenn
auch nur ein kleiner Bruchteil dieses Reichtums in seiner Heimat in einem
Brunnen sprudeln würde. Kilometerlange Wege und echte Durststrecken blieben ihm
und seinem Volk dann erspart. Die Freude darüber wäre unendlich groß.
Uns mangelt es fast an gar
nichts. Alles ist immer und überall zu haben. Doch wir kennen nicht mehr dieses ehrfürchtige Staunen und uns fehlt oft die
Dankbarkeit für die überreichen Gaben auf unseren Tischen, in den Kühltruhen
und den Kleiderschränken, die das Leben hier in unserem Land für uns bereit
hält. Wer das begreift, der wird wieder dankbar und froh, denn die Freude und die Dankbarkeit fehlen uns allzu oft.
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