Zwischen Todeswunsch
und Lebenswille
Wie oft hat doch Tante
Frieda in letzter Zeit schon gesagt: „Ach, am liebsten möchte ich sterben.“
Gleich darauf folgten auch schon ihre Worte: „ Ich darf nicht vergessen, meine Herztabletten
zu nehmen, erinnert mich bloß daran“. Sie ist ständig hin und her gerissen zwischen
Todeswunsch und Lebenswillen.
Inzwischen ist sie fast 93
Jahre alt. In den zurückliegenden Jahren hat sie viele Krankheiten und
altersbedingte Leiden er-tragen müssen. Von der einst tatkräftigen Frau ist nicht
mehr viel übrig geblieben. Die Knochen, die Gelenke, das Herz, die Lunge und
anderes versagten immer mehr ihre Dienste. Schmerzen machten ihr das Leben schwer.
Die unendlich vielen Medikamente bringen kaum noch Linderung, aber sie verlängern
ihre Lebenszeit, Monat um Monat, Jahr um Jahr. Die Kinder im Haus, nun auch
nicht mehr ganz jung, betreuen sie liebevoll rund um die Uhr, stets ängstlich um sie besorgt. Bei jedem kleinsten Hilferuf sind sie sogleich zur Stelle und rufen
den Notarzt. Eine Katastrophenmeldung nach der anderen macht dann ganz schnell
die Runde in der Verwandtschaft. Nun beginnt wieder das Hoffen und Bangen, wird
sie es schaffen? Was soll sie eigentlich schaffen?
Vor kurzem ist Friedas Mann
mit 94 Jahren verstorben. Auch wenn beide füreinander nicht mehr viel tun
konnten, so haben sie sich doch wenigstens umeinander gesorgt. Einer hat den
anderen gebraucht. Nach einem langen gemeinsamen Eheleben, das sie über 64
Jahre in guten und in schweren Zeiten miteinander verbunden hatte, ist der Tod
des Partners besonders schmerzhaft. Tante Friede fiel in ein dunkles Loch von
Trauer und Schmerz.
Da ließ auch der nächste
tatsächliche Fall nicht lange auf sich warten. Tante Frieda stürzte in ihrer
Wohnung und brach sich den Oberschenkelhals. Was für so manch anderen im hohen
Alter fast den sicheren Tod bedeutet hätte, war für sie zwar eine harte Prüfung,
aber noch längst nicht das Ende. Der Bruch wurde operiert und gleichzeitig
wurde ihr eine neue Hüftprothese eingesetzt. Alles ist möglich!
Tante Frieda hatte es wieder
einmal überstanden, obwohl es harte Wochen für sie im Krankenhaus und in der
Reha-Klinik waren. Aber auch für das
Personal und ihre Besucher ist es nicht immer ganz einfach gewesen. Manchmal
war sie nicht mehr sie selbst, sie war so unwirsch und verstört und wollte nur
noch nach Hause und sterben.
Das aber hatte die heutige Medizin mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wieder einmal verhindert. Ihre
Schmerzen sind sogar kurzfristig etwas erträglicher geworden. Doch die innere
Ruhe und Zufriedenheit kehrten bei ihr nie mehr ein. Sie klammert sich zwar an
das Leben und empfindet es gleichzeitig nur noch als schwere Last.
Der Satz von Tante Frieda: „Ich
möchte sterben, aber vergesst meine Herztabletten nicht“, macht ihre innere
Zerrissenheit sehr deutlich. Solche Worte zeigen auch den Gemütszustand vieler anderer
Menschen in ähnlichen Lebenssituationen auf. Die meisten von ihnen werden ebenso zwischen Todeswunsch und Lebenswillen hin und her gerissen. Sie
wollen sterben, aber sie können das Leben nicht loslassen.
Die Medizin hat es
heute geschafft, das Leben hochbetagter Menschen um Jahrzehnte zu verlängern, jedoch
kann sie keinem von ihnen die immer schwerere Last dieser Jahre nehmen. Diese
Last müssen sie nun allein und ihre pflegenden Angehörigen tragen. Jeder auf diese
Weise künstlich hinzu gefügte Tag wird gleichzeitig mehr und mehr zur physischen
und psychischen Belastung für sie. Dieser Zustand, der mit einem enormen
Aufwand an Medizintechnik und jeder Menge an chemischen Substanzen erreicht
wird, und häufig als Erfolg angesehen wird, hat aber einen hohen Preis. Selbst die medizinisch
erfolgreichsten Operationen führen höchst
selten zu einem selbstbestimmten und erfülltem Leben der Hochbetagten und
ihrer Pfleger.
In früheren Zeiten gaben
sich die Menschen viel weniger der Illusion hin, das Leben ließe sich unendlich
und unbedenklich verlängern. Sie waren sich bewusst, dass jedes
Leben zeitlich begrenzt ist. Wo heute diese Grenzen mit allen Mitteln der
medizinischen Kunst und um jeden Preis verschoben werden, da führt das zwar zu
einer Verlängerung der Lebenszeit, aber auch zur Verlängerung der Altersbeschwerden
und des ungewissen Abschieds. Dieser oft zermürbende
Zustand wiederum muss dann durch immer mehr Medikamente beruhigt werden und das nicht ohne „Risiken und Nebenwirkungen“.
Da stellt sich doch die
Frage: „Ist wirklich alles gut, was machbar ist?“
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