Freitag, 18. Oktober 2013


Blatt für Blatt oder der Mut zur Lücke


Fast über Nacht hat der Wind die letzten Blätter von der Linde vor meinem Fenster geweht. Nur noch weinige davon zeichnen sich schemenhaft gegen den blassgrauen Himmel ab. Noch vor kurzem bildeten sie einen grünen, dann goldgelben Vorhang und verbargen die Häuserfront auf der anderen Straßenseite. Das Auge muss sich erst wieder an diese Kargheit der kahlen Äste an den Bäumen gewöhnen und es tut sich unendlich schwer, von der Fülle und Farbenpracht der Natur Abschied zu nehmen.

Hierbei wird mir deutlich, dass wir Menschen meistens erst merken, was das Leben uns alles schenkt, nämlich dann, wenn  es nicht mehr da ist. Und das ist unendlich viel mehr, als die Blätter der Bäume, denen wir nun wehmütig nachtrauern. Verluste haben wir wohl schon alle einmal hinnehmen müssen. Angefangen vom Schlüsselbund bis hin zur Arbeitsstelle. Menschen verlieren heute so manches. Die Fundbüros sind voll von diesen Dingen. Einiges ist ersetzbar und wird leichter verschmerzt. Schmerzlich ist es aber in jedem Fall, wenn etwas verloren geht. Und manches ist eben nicht ersetzbar. Wer einen Menschen verliert, sei es durch Trennung oder gar Tod, wird diesen Verlust stets in sich tragen. Solche Verluste graben sich oft tief in den Menschen ein. Es bleibt in seinem Leben ein Platz leer. Eine Lücke entsteht, die so schnell nicht geschlossen werden kann oder muss. „Mut zur Lücke“, ist da so ein Wort, das zumindest bedenkenswert ist. Die Lücke ist eine Leerstelle, die möglichst schnell wieder geschlossen werden soll. In einer Häuserzeile in der Stadt wirkt eine Baulücke störend und allzu oft ist sie bald vermüllt. Und wer möchte schon gerne mit einer Zahnlücke herumlaufen? Defizite in unserem Leben sollen möglichst schnell beseitigt oder wenigstens kaschiert werden. Das Wort: „Mut zur Lücke“ ist da nicht einfach ein Trostpflaster, alles so zu belassen, wie es nun einmal ist,  sondern es ist eine Herausforderung, sich mutig der neuen Situation zu stellen. Da  heißt es, den entstandenen Verlust erst einmal als solchen zu sehen und ihn anzuerkennen. Das ist nun einmal so! Muss es aber so bleiben? Gibt es nicht ganz neue Perspektiven?

Wenn ich zum Beispiel jetzt aus meinem Fenster schaue, dann sehe ich zuerst einmal den kahlen Lindenbaum, aber wenn ich den Blick hebe, kann ich den Himmel über den Dächern der Häuser auf der anderen Seite sehen. Dieser Ausblick war mir in den letzten Monaten nicht möglich, das ist neu. Auch ist es spürbar heller an meinem Schreibtisch geworden. Mehr Licht kommt in mein Zimmer, in mein Leben. Am Abend erkenne ich, wie sich die Fenster der gegenüber liegenden Wohnungen erhellen und Licht und Wärme ausstrahlen. Dort leben Menschen und sie können nun freier auf unser Wohnhaus schauen. Dinge und Menschen können schon mal den Blick füreinander verstellen, unseren Blick einengen! Durch entstandene Lücken hindurch kann ich Dinge entdecken, die mir sonst verborgen geblieben wären. So können auch oft schmerzliche Verluste mein Blickfeld erweitern.  Das, was sich wie eine hässliche Lücke aufgetan hat, schenkt mir nun einen neuen Blick und erweitert  den Horizont. Dazu braucht es aber immer wieder Mut und die Ermutigung durch andere Menschen.

In diesem Blog: „Worte und Wege“ möchte ich Worte suchen, die bewegen! Wer mir dabei folgen möchte ist herzlich dazu eingeladen. Dietrich Letzner, Halle-Saale

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