Samstag, 20. September 2014


Der Wasserfall


Als ein Sohn der Wüste zum ersten Mal vor einem Wasserfall stand, konnte er sich daran nicht satt sehen. Mit staunenden Augen und offenem Mund stand er lange Zeit davor. Als sein Begleiter ihn drängte, weiterzugehen, sagte er: „Ich möchte noch sehen, wann das Wasser aufhört zu fließen“. Er konnte es einfach nicht glauben, dass der Wasserfall nicht abgestellt wird, dass das Wasser immer weiter aus dem Felsen strömt. Für ihn unbegreiflich, ein Wunder der Natur. So ein Reichtum, so ein Überfluss. Einfach unfassbar für ihn. Das gab es in seiner kargen Heimat in der Wüste nicht. Da wurde kein Tropfen Wasser verschwendet, denn jeder war unendlich kostbar und lebensnotwendig. Wenn man nicht rechtzeitig ein Wasserloch oder eine kleine unterirdische Quelle fand, konnte das den Tod für Mensch und Tier bedeuten.

In unseren Breiten gibt es nicht nur Wasser im Überfluss, sonder vieles andere wird uns in einer unendlichen Fülle angeboten. Wir werden förmlich mit Waren und Produkten aller Art überhäuft. Wer aber stets und ständig  in so einer „Überflussgesellschaft“ lebt, der verlernt leicht den wahren Wert der Dinge zu begreifen und vor allem zu schätzen. Allzu leichtfertig werden hier die Dinge verschwendet und gering geachtet. Lebensmittel werden im Müll entsorgt, wenn sie etwa unansehnlich geworden sind. Kleidung landet im Container, wenn sie nicht mehr der neusten Mode entsprechen. Geht ein Gerät kaputt, wird es sofort durch ein Neues ersetzt. Kaum jemand macht sich noch die Mühe, etwas zu reparieren. In einer solchen „Wegwerfgesellschaft“ werden viele Ressourcen verschwendet und manche Fähigkeiten bleiben ungenutzt.

Der Sohn der Wüste stand staunend und ehrfürchtig vor dem Wasserfall. Er wäre wohl sehr dankbar, wenn auch nur ein kleiner Bruchteil dieses Reichtums in seiner Heimat in einem Brunnen sprudeln würde. Kilometerlange Wege und echte Durststrecken blieben ihm und seinem Volk dann erspart. Die Freude darüber wäre unendlich groß.

Uns mangelt es fast an gar nichts. Alles ist immer und überall zu haben. Doch wir kennen nicht mehr dieses ehrfürchtige Staunen und uns fehlt oft die Dankbarkeit für die überreichen Gaben auf unseren Tischen, in den Kühltruhen und den Kleiderschränken, die das Leben hier in unserem Land für uns bereit hält. Wer das begreift, der wird wieder dankbar und froh, denn die Freude und die Dankbarkeit fehlen uns allzu oft. 

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