In meinem Aktenschrank steht schon lange eine Flasche Obstbrand. Immer wenn ich dort einen Ordner entnehme oder einstelle, fällt mein Blick gerade in Augenhöhe auf das bunte Etikett dieser Flasche. Nicht, dass mir dabei das Wasser im Mund zusammenliefe, nein, es ist etwas anders, was mir in den Sinn kommt und geradezu das Herz etwas schwer macht. Es ist die Erinnerung an meinen Freund Charly. So manchen Obstler haben wir zusammen getrunken.
Seit gut zwei Jahren ist er nun bereits tot. Sehr früh und für alle unerwartet kam der Tod über ihn und uns alle. Bei manchen Menschen kann man es sich nicht vorstellen, dass es sie einmal nicht mehr gibt. So auch bei Charly. Er war in seiner lebendigen Art immer sehr präsent, offen, direkt und laut. Er nahm nie ein Blatt vor den Mund. Das machte ihn bei vielen beliebt, bei anderen eher nicht. Wer hört schon gern die Wahrheit, wenn sie nicht gerade schmeichelhaft für einen selbst ist?
Die Flasche mit dem Apfel
und Birnen Obstbrand hatte er mir einmal geschenkt. Sie stammt aus dem kleinen
Ort Fürstenberg im Schwarzwald, wohin Charly jahrelang mit Gruppen zu
Freizeiten gern gereist ist. Und er wusste was gut ist. „Der hilft bei allem,
darauf kannst Du Dich verlassen“, das waren stets seine Worte und er schenkte
noch einen ein. Daran und noch an vieles mehr muss ich denken, wenn ich diese
Flasche in meinem Schrank sehe.
Wie oft sind es doch gerade
die profansten Dinge, die uns nachdenklich werden lassen und unsere Erinnerung
beflügeln. Sie werden so zu äußeren Zeichen, die uns auf eine viel tiefere,
innere Wirklichkeit verweisen. Der Blick auf die Flasche Obstbrand lässt den verstorbenen
Freund in der Erinnerung wieder lebendig werden, so lebendig, wie ich ihn jahrelang
erleben durfte. Bei allem Verlust macht mich das sehr dankbar.
So oder ähnlich geht es
sicher vielen Menschen. Ein Stein oder eine Muschel vom Strandurlaub lassen
buchstäblich im grauen Herbst und Winter wieder die Sonne scheinen und das
Rauschen der Wellen hören. Ein Bild an der Wand oder eine Ikone, die mir
geschenkt wurden, werden auf ihre ganz eigene Weise zum Türöffner in eine
andere Welt. Die Tasse auf dem Regalbrett erinnert an eine hitzige Diskussion
und daran, dass dabei eine Menge Porzellan zerschlagen wurde und wie mühsam es
war, alles wieder zu kitten. Hinter den Dingen, selbst den unscheinbarsten,
steckt ja oft viel mehr, da werden Situationen und die Beteiligten wieder sehr lebendig
mit ihren Geschichten und all dem, was sie sind oder waren.
Für jeden Menschen gibt es
sicher solche, oft kleinen und für andere bedeutungslose Andenken, die ihm aber
etwas bedeuten und in ihm wach werden lassen. Daran knüpfen sich ganz
persönlicher Erinnerungen. Die Erinnerung an einen schönen Urlaub, die
Begegnung mit einem hilfsbereiten Menschen in einer Notsituation, die Erfahrung
von Nähe und Geborgenheit. Kleine Dinge werden gleichsam zu „Denkmälern“, die zum
Denken und zum Danken anregen.
Natürlich sind nicht alle
Erinnerungen nur schön. Aber auch schmerzliche Erinnerungen gehören nun mal zu
unserem Leben und dürfen deshalb nicht einfach verdrängt werden. Manches weist
uns hin auf die Verluste in unserem Leben, die wir schmerzlich erfahren
mussten. Da geht ein Freund nach einer schweren Krankheit viel zu früh von uns.
Die gemeinsam erlebte Zeit ist zu Ende. Jeder kennt wohl solche oder andere Brüche in seinem Leben.
Wo aber die Trauer über den
Verlust und damit das Selbstmitleid übergroß werden, da gerät etwas viel
Wichtigeres aus dem Blick der Betroffenen, nämlich der Dank und die Freude
darüber, dass es den anderen gegeben hat und dass es diese Zeit der
Gemeinsamkeit gab. Das gemeinsam Erlebte ist doch für jeden das, was ihm keiner
mehr nehmen kann.
Genau daran erinnert mich die
Flasche Obstbrand in meinem Schrank und sie weckt Freude und Dankbarkeit in
mir, dass ich Charly fast dreißig Jahre als guten Freund hatte und so manchen
Obstler mit ihm trinken durfte.