Beachtet mich!
Immer
wenn ich solche beschmierten Wände oder Fahrzeuge sehe, fällt mir eine Geschichte ein, die ich vor vielen Jahren einmal gelesen habe. Den Namen des Autors
und den Titel habe ich längst vergessen. Aber das, was darin erzählt wurde, hat
mich doch sehr beeindruckt. Es wurde berichtet, dass es immer wieder zu
Schmierereien an den Wagen der New Yorker Metro kommt. Die Schmierereien stammten von Jugendlichen, die Langeweile hatten. Ohne ein richtiges Zuhause, trieben sie sich oft Tage und
Nächte lang in den U-Bahnschächten herum. Dort haben sie dann ihre Zeichen und Kürzel auf die Wagen gesprüht. Danach verschwand der Zug wieder im
dunklen Tunnel. Nun warteten die Jugendlichen gespannt bis der Wagen mit ihrem
Zeichen wieder vorbeikam. Sie waren stolz und glücklich, wenn sie ihr Zeichen
erkannten. Es war das Einzige, was sie in ihrem bisherigen Leben vorzuweisen
hatten. Damit konnten sie sich identifizierten. Dieses „Wiedererkennen“ bedeutete ihnen deshalb sehr viel. Wie trostlos musste ihr Leben verlaufen sein?
Keiner kümmerte sich um sie. Sie waren sich selbst überlassen. Sie fühlten sich
unbeachtet, ungeliebt und ziemlich nutzlos.
Sind
diese Schmierereien nicht auch heute Versuche, irgendwie Beachtung zu finden? Wenigstens
in den eigenen Kreisen? „Das ist mein Kürzel, mein Markenzeichen, das hab ich
gemacht“. Es ist so etwas wie eine Selbstbestätigung: „Wenn mich schon keiner
lobt, so sollen sie doch wenigsten merken, dass es mich
gibt.“ Eigentlich eine ganz traurige und beschämende Geschichte, die zeigt, dass
kein Mensch ohne Zuwendung und Anerkennung leben kann. Jeder möchte beachtet
werden, denn nur so gewinnt er Achtung vor sich selbst und vor den anderen. Der
Mangel an Beachtung und Anerkennung kann Menschen krankmachen oder aggressiv.
Um
herauszufinden, welche Bedeutung ein Mitglied in einer Gruppe hat, gibt es ein,
ich möchte sagen, recht bedenkliches Spiel. Dazu stehen alle Teilnehmer im Raum
verteilt, dann wird das Licht gelöscht und der Leiter des Spiels wirft einem Teilnehmer eine
Decke über den Kopf, so dass er für die anderen quasi unsichtbar wird. Wenn danach
das Licht wieder angeschaltet wird, muss erraten werden, wer fehlt. Dabei sind ganz gewiss schon Tränen geflossen, denn der Teilnehmer, dessen Fehlen den anderen einfach
nicht auffällt, muss doch unweigerlich erkennen, dass er den anderen überhaupt nicht wichtig ist.
Keiner vermisst ihn. Der Mangel an Beachtung führt oft zu gravierenden
Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft. Sind deshalb so viele Menschen krampfhaft darum bemüht, sich stets zu positionieren und in den Vordergrund zu drängen?
Was der Teilnehmer, der nicht vermisst wurde, bei diesem „Spiel“ erfahren musste, ist heute die vielfache Erfahrung und Realität
von jungen und alten Menschen. Keiner braucht sie wirklich. Sie sind ein "Nichts". Warum sollen sie sich noch
anstrengen? Die Zahl derer, die an den Rändern unserer Gesellschaft leben, wird
immer größer. Ganze Gruppen von Menschen versuchen wohl gerade deshalb durch ihr auffallendes
Äußeres und ihr Auftreten, Aufmerksamkeit zu erwecken oder sich abzugrenzen.
Sie möchten Auffallen, und das um jeden Preis. Sie kompensieren mit ihrem so „coolem
Gehabe“ ihre innere Leere und ihre Angst, denn sie spüren selbst, dass sie
nicht dazugehören. All das ist wie ein verzweifelter Schrei: „Beachtet mich!“
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