Edelsteine und Menschen
„Menschen sind wie Edelsteine: Man lernt sie am besten kennen,
indem man sie aus der Fassung bringt“. Vielleicht haben Sie diesen Spruch schon
einmal gehört. Ich meine jedenfalls, da ist viel Wahres dran. Denn erst, wenn
der Juwelier den Stein aus der Fassung eines Ringes nimmt, kann er ihn
begutachten, sein Gewicht und seine
Größe feststellen, unter der Lupe betrachten und ihn ins Licht halten, um seine
Reinheit zu erkennen. Solange der Stein in der Fassung steckt, ist er geschützt
und es bleiben eventuelle Fehler und Kratzer verborgen. Nach all diesen
Prüfungen kann erst sein Wert bestimmt werden und ob es überhaupt ein echter
Edelstein ist.
Genau so ist es mit einem Menschen. Solange die Fassung des
Alltags ihn umgibt, hat er seinen Halt und seine Sicherheit. Wird er aber
plötzlich aus dieser Fassung gebracht, weil z.B. Kinder seinen Briefkasten an Halloween mit
Ketschup beschmiert haben, dann wird aus dem liebenswürdigen Nachbarn plötzlich ein ungenießbarer
Zeitgenosse. Aus der höflichen Mitarbeiterin wird eine zänkische und
missgünstige Kollegin, weil sie meint, der Chef würde alle anderen im Büro
bevorzugen.
Diese Empörung über vermeintliche oder echte Ungerechtigkeiten
lässt manchen schnell die Fassung verlieren. Er oder sie zeigen sich dann, wie
sie wirklich sind. „Wer schreit, hat schon verloren“, darum gilt es heute die
„Contenance“ zu bewahren, denn wer zu viel von sich preisgibt, macht sich
angreifbar. Darum erscheint es so, als ob die meisten Menschen nichts mehr aus
der Fassung bringen könnte. Die schrecklichsten Meldungen in den Nachrichten
von Terroranschlägen, von den ertrunkenen Bootsflüchtlingen vor Lampedusa, von
Hungernden in Afrika, von Kindersoldaten oder anderen Katastrophen werden mit
einem Schluck Bier herunter gespült und die Bilder von anderen Bildsequenzen
schnell überblendet. Tage später, das weiß doch jeder, redet sowieso keiner
mehr darüber. Außer einer künstlich hochgespielten Empörung z. B. über Limburg
und seinen Bischof, sind es doch oft nur „Eintagsfliegen“. In unserer schnelllebigen
Zeit besteht daher die Gefahr, dass Menschen sehr oberflächlich werden, keiner
echten Empörung über wirkliche Ungerechtigkeiten mehr fähig und gleichgültig
dem Leid anderer gegenüber. Was aber, wenn ihnen durch persönliche
Schicksalsschläge ihr Halt und ihre Fassung genommen werden? Dann bricht ihnen
wirklich eine, ja, ihre Welt zusammen.
Wer gibt den Menschen Halt, wenn ihre künstlichen
Sicherungssysteme ausfallen, ihre Fassaden bröckeln? Da bin ich schon der
Meinung, dass es gut wäre, seinen Schutzpanzer aufzubrechen und sich aus der
Fassung bringen zu lassen. Einmal „fassungslos“ ohne Selbstschutz auf sein eigenes Leben zu schauen und zu
fragen: „Wer bin ich, was hält mich, was bin ich Wert ohne all die Äußerlichkeiten
von Besitz, Schönheit, Jugend und Ansehen?“ Diese offenen Fragen könnten doch
wohl den einen oder anderen dazu führen, zu erkennen, es muss darüber hinaus noch
einen „anderen Halt“ im Leben geben, der allem Äußeren standhält. In ihm ist
jeder Mensch gut und sicher „eingefasst“, wie ein kostbarer Edelstein.
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